Wanderausstellung:
Das
Untergrundarchiv "Oneg Shabbat" im Warschauer Ghetto
Gudrun Schroeter, tacheles-reden/hagalil
Bis Ende des kommenden Jahres ist die Wanderausstellung "Oneg
Shabbat" in verschiedenen Städten Nordrhein Westfalens zu sehen.
Oneg Shabbat, die Freude am Shabbat, ist das wöchentliche
Zusammensein nach dem Shabbat-Mahl: Familienmitglieder, Freunde
sitzen zusammen, erzählen sich die Ereignisse der Woche, ruhen aus
und feiern den beginnenden Ruhetag. Im Warschauer Ghetto während der
deutschen Besatzung war Oneg Shabbat der Tarnname für eine Gruppe,
die sich um den Historiker Emanuel Ringelblum sammelte und die
Bezeichnung für das geheime Untergrundarchiv im Ghetto.
Emanuel Ringelblum, wie auch andere Historiker, hatte
früh erkannt, dass das jüdische Volk sich in einer bisher nie
gewesenen Situation befand, und dass es notwendig sei, die
Ereignisse möglichst genau für die Nachwelt zu dokumentieren. Simon
Dubnows letzte Worte in Riga 1941 sind überliefert: "shraybt un
farshraybt!"
Emanuel
Ringelblum
Emanuel Ringelblum, dessen Name unweigerlich mit dem
Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto verbunden ist, wurde in
Buczacz in Ostgalizien geboren. Er promovierte 1927 in Warschau über
die Geschichte der Warschauer Juden im Mittelalter und arbeitete
dann als Geschichtslehrer und für das Joint Distribution Committee
(JDC). Schon früh hatte er sich der sozialistischen zionistischen
Organisation Po´alei Zion angeschlossen. Ende Oktober 1938 hielt er
sich im Auftrag des JDC in Zbaszyn auf, wo 6.000 aus Deutschland
ausgewiesene Juden und Jüdinnen in einem Lager untergebracht waren.
Zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls auf Polen war er in
wissenschaftlichen Kreisen wie im jüdischen gesellschaftlichen Leben
eine bekannte Persönlichkeit.
Im Ghetto organisierte Emanuel Ringelblum ab Oktober
1939 ein Netz von Mitarbeitern des Untergrundarchivs, die
verschiedenste politische und kulturelle Richtungen präsentierten.
Sie waren neben der Arbeit im Archiv in diverse andere
Überlebensaktivitäten des Ghettos involviert: in Hauskomitees, die
Organisation von Suppenküchen und andere Selbsthilfeorganisationen.
Als das Ghetto im November 1940 geschlossen wurde, entschieden
Emanuel Ringelblum und seine Mitarbeiter das Archiv als
organisiertes Untergrundarchiv weiterzuführen. Trotz wiederholter
Angebote, die Stadt und das Ghetto verlassen zu können, blieb
Emanuel Ringelblum. Am 7. März 1944 wurde das Versteck der Familie
Ringelblum von den Deutschen entdeckt, sie wurden erschossen.
Fußnoten der
Geschichte
Es war Mordechai Tenenbaum, der in sein Tagebuch
schrieb, dass einige Fußnoten der Geschichte zurückgelassen werden
müssen. Er verstecke und vergrabe seine Notizen im Boden wie ein
Samenkorn, das vielleicht eines Tages wachsen werde. Auch in anderen
Ghettos entstanden Untergrundarchive: in Bialystok z.B. initiierte
Mordechai Tenenbaum nach dem Vorbild aus dem Warschauer Ghetto ein
geheimes Archiv. Im Wilnaer Ghetto wurden die Ereignisse unter der
Federführung von Herman Kruk und anderen gesammelt und dokumentiert,
in Konzentrations- und Todeslagern wurden heimlich Aufzeichnungen
vergraben oder in Mauerritzen versteckt. Diese Aufzeichnungen und
Sammlungen sind heute von unschätzbarem Wert.
Neben dem Ziel, der Nachwelt die Geschehnisse zu
vermitteln, wurden große Anstrengungen unternommen, Nachrichten in
die antinazistische Welt gelangen zu lassen. Von Warschau aus gelang
es 1943 über den polnischen Untergrund, das Zeugnis eines aus
Chelmno geflohenen Juden nach London zu schaffen, ebenso einen
Bericht über die Massendeportationen aus dem Warschauer Ghetto. Eine
erhoffte Reaktion und ein Eingreifen aufgrund der Berichte sowohl
seitens der polnischen Exilregierung als auch anderer Gegner der
Nationalsozialisten blieb aus.
Forschung im
Ghetto
Unter den horrenden Bedingungen des Ghettos – Hunger,
Winterkälte und der permanenten Gefahr von Deportation – wurden in
den Ghettoarchiven Dokumente gesammelt, seien es amtliche Papiere
der deutschen Besatzung wie Bekanntmachungen, offizielle
Korrespondenz, oder private Dokumente wie Meldekarten,
Lebensmittelkarten oder Arbeitsscheine und persönliche Zeugnisse.
Zusätzlich wurden die tagtäglichen Ereignisse erforscht. Emanuel
Ringelblum schrieb in seinen Aufzeichnungen, die er im September
1943 in einem Bunker anfertigte: "Ich schreibe diese Arbeit, während
der mörderische Krieg noch wütet und man weiß nicht, was noch mit
dem Rest des europäischen Judentums geschehen wird. Das Material für
meine Arbeit ist noch sehr frisch, noch nicht reif für das objektive
Urteil des Historikers. ... Die hier ausgesprochenen Ansichten sind
der Ausdruck von Meinungen aus gewissen fortschrittlichen Kreisen
der Handvoll aus dem Pogrom Geretteter des ganzen Volkes und als
solche werden sie ein Beitrag für den künftigen Historiker der
Geschichte der Juden in Polen während dieses Weltkrieges sein."
(1)
Ab Mitte 1941 arbeiteten die Mitarbeiter des
Untergrundarchivs in Warschau an einer Reihe von Untersuchungen über
das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der
Juden in Warschau während der Okkupationszeit: Emanuel Ringelblum
forschte unter anderen zum Thema "Jüdisch-polnische Beziehungen",
wobei er nicht nur den historischen Zeitraum vor dem Einfall der
Deutschen behandelte, sondern auch differenziert die Phasen vor und
nach der Gründung des Ghettos und nach der Schließung des Ghettos
behandelte. Zudem war sein Ziel, aus den Zeugnissen und Dokumenten
eine umfassende Ghettochronik zu erstellen.
Kiddush haShem
Die wenigen Überlieferungen, die heute zur Verfügung
stehen und Auskunft über das religiöse Leben im Ghetto geben, sind
größtenteils aus den geborgenen Resten der Untergrundarchive
erhalten. Rabbi Shimon Hubberband, einer der engen Mitarbeiter
Emanuel Ringelblums, etwa notierte kontinuierlich bis zu seiner
Deportation nach Treblinka im April 1942 Fälle von Rettungen von
Sifre Torah aus brennenden Synagogen, von heimlichem
Mazzebacken zu Pessach und spirituellem Widerstehen Einzelner und
Gruppen gegen deutsche Schikanen. Doch er hielt nicht nur die
Ereignisse fest, die ihm aus dem Ghetto und aus den kleinen Städten
und Dörfern der Umgebung Warschaus zugetragen wurden. Neben der
Arbeit in einem sozialen Hilfsprojekt im Ghetto arbeitete er weiter
an seinem Werk über die Responsenliteratur.
(2)
Ringelblum-Archiv
Die Dokumente und Aufzeichnungen wurden im Warschauer
Ghetto in drei Phasen in Metallgefäßen und Milchkannen im Ghetto
versteckt. Im September 1946 wurde ein erster Teil ausgegraben, der
zweite vier Jahre später. Der dritte Teil, der große Mengen an
Information über den Widerstand und die Kämpfe des Aufstands im
Warschauer Ghetto enthalten soll, konnte bisher nicht gefunden
werden. Die Sammlung "Oneg Shabbat" ist heute unter der Bezeichnung
"Ringelblum-Archiv" zu einem historischen Begriff geworden und wird
im Jüdischen Historischen Institut in Warschau aufbewahrt. Sie
umfasst 1.680 Archivposten, etwa 25.000 Seiten. Einige exemplarische
Teile der Sammlung sind in der Ausstellung zu sehen.
Die Veranstalter der Wanderausstellung wollen " … ein
möglichst breites und kontrastreiches Spektrum von Materialien zu
zeigen. So werden die Ausrottung der Juden durch die
Nationalsozialisten dokumentiert, aber auch die Bemühungen der
jüdischen Bevölkerung im Ghetto, ein Überleben zu ermöglichen, oder
die Anstrengungen der Untergrundbewegung …". Ziel und Umfang der
nationalsozialistischen Politik gegen die Juden deutlich werden. In
einem Bereich der Ausstellung werden auch der Historiker Emanuel
Ringelblum und seine rund 50 Mitarbeiter vorgestellt.
Die Orte und Termine sind zu finden:
http://www.oneg-schabbat.info
Anmerkungen:
(1)
Emanuel Ringelblum: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos,
Stuttgart 1967, S. 22
(2) Shimon Hubberband: Kiddush haShem. Jewish
Religious cultural Life in Poland during the Holocaust, NY 1987,
(hier: S. 108 ff.)
Weitere Information:
hagalil.com
11-08-03 |