Ausstellung:
Freuds verschwundene Nachbarn
Vom 26. März bis 28. September 2003 präsentiert
das Sigmund Freud-Museum Wien unter dem Titel "Freuds verschwundene
Nachbarn" eine Ausstellung, die das Haus Berggasse 19 zum Thema hat.
Das Gebäude steht heute für den Namen Freud und die Entstehung der
Psychoanalyse. Abseits dieser auratischen Funktion lenkt die
Ausstellung den Blick in das Innere eines Wiener Mietshauses, dessen
Räume ein Labyrinth aus zeitgeschichtlichen Linien bilden. In das
Blickfeld rückt eine Geschichte, die beispielhaft für viele Häuser
Wiens stehen kann.
Besucher
des Sigmund Freud-Museums Wien stellen immer wieder die
Frage, wer in den zahlreichen anderen Wohnungen der Berggasse 19
gelebt habe und was aus diesen Bewohnern geworden sei. FREUDS
VERSCHWUNDENE NACHBARN gibt eine Antwort darauf und entwirft ein
Bild der einstigen Hausgemeinschaft. Die Ausstellung ermöglicht
einen Einblick in das Leben der Bewohner des Hauses Berggasse 19,
von denen viele durch den Nationalsozialismus vertrieben oder
ermordet wurden. Der Gang durch das Haus führt in die Praxis der
Psychoanalytikerin Dorothy Burlingham, die hier bis 1938 wohnte und
arbeitete, oder auch in die Wohnung von Dorothea und Emil Humburger,
die der Schriftsteller Leo Perutz bei ihrer Emigration unterstützte.
FREUDS VERSCHWUNDENE NACHBARN erschöpft
sich nicht im Aufzeigen von Einzelschicksalen, vielmehr verdeutlicht
die Ausstellung am Beispiel eines Mietshauses die Nachwirkungen der
"Arisierungen" weit über das Jahr 1945 hinaus.
Der
Weg der Ausstellung führt gleichsam zurück in die Geschichte einer
durch den Namen Freud zufällig berühmt gewordenen Adresse wie an die
Gegenwart heran: Es öffnen sich die Türen zu den derzeit laufenden
Debatten über die Entschädigung nationalsozialistischer
Enteignungen, zu den widersprüchlichen Verbindungen von Geld,
Bürokratie und Gedächtnis und den Ritualen der Erinnerung, derer
sich Museen bedienen.
Am
Beispiel einzelner Wohnungen werden die Schwerpunkte
Sammelwohnungen, "Arisierung", Deportation, Emigration, Remigration,
Rückkehr aus dem Lager sowie Entschädigungs- und Rückstellungspraxis
der Zweiten Republik gesetzt.
Sammelwohnungen
Im
Zuge der Aufhebung des Kündigungsschutzes für Juden am 10. Mai 1939
wurden jüdische Wohnungseigentümer gesetzlich verpflichtet, jüdische
Mitbürger auf Verlangen der Behörde als Mieter und Untermieter
aufzunehmen. Im Sommer 1939 entstanden in kürzester Zeit
ghettoähnliche Situationen in einzelnen Wiener Stadtgebieten.
Besonders drastisch gestaltete sich die Situation in Berggasse 17
und Berggasse 19. Laut Aufzeichnungen des Gruppenleiters Roßau
gehörten diese zu den am dichtesten belegten Gebäuden der Straße.
Auch Sigmund Freuds Privatwohnung Nr. 5 diente nach der Vertreibung
von Freud und seiner Familie als "Sammelwohnung".
"Arisierung"
Am
Beispiel der Familie Hand, die 1939 zwangsweise in die Räume von
Freuds ehemaliger Praxis eingewiesen wurde, zeigt sich die
schrittweise Enteignung, denen jüdische Bewohner ausgesetzt waren.
Eine Station dieser Enteignung bildete der Verlust des Mietrechtes
und die zwangsweise Unterbringung in Wohnungen anderer Juden. Ab 1.
Jänner 1939 war Juden jegliche unternehmerische Tätigkeit untersagt,
die Betriebe wurden zwangsarisiert oder liquidiert. Das als "volks-
und staatsfeindlich" bezeichnete Vermögen und alle damit verbunden
Rechte und Ansprüche verfielen an das Deutsche Reich. Am Ende der
sukzessiven Enteignung stand die Deportation – was zu diesem
Zeitpunkt noch an Vermögen, Schmuck oder auch Hausrat vorhanden war,
wurde den Menschen vor dem Transport bzw. in den
Konzentrationslagern abgenommen.
Deportation
Die
zwangsweise "Umsiedlung" der Juden innerhalb der Stadtgrenzen Wiens
erfolgte in mehreren Schüben zwischen 1939 und 1942. Es bildeten
sich vor allem im 9. Bezirk Zonen, in denen zahlreiche jüdische
Sammelwohnungen entstanden, deren Bewohner wie im Haus Berggasse 19
Tür an Tür mit alteingesessenen Mietern lebten.
Die
Deportationen, die in den gezeigten Akten harmlos als
"Evakuierungen" bezeichnet werden, hatten in Wien bereits 1939
eingesetzt. Während die jüdischen Verwaltungsinstanzen weiterhin
intensiv versuchten, Emigrationen zu ermöglichen, mussten sie
gleichzeitig die Deportationen abwickeln und die Aushebung der
Sammelwohnungen durchführen. Wie aus den Recherchen hervorgeht,
wurden fast alle der 79 nach 1938 zwangsweise einquartierten
Bewohner der Berggasse 19 in die Lager Theresienstadt, Maly
Trostinec und Izbica deportiert.
Emigration
Herrschte
nach dem 12. März ein rigides Ausreiseverbot, so versuchten die
Nationalsozialisten ab Mai 1938 die Auswanderung unter massivem
Druck auf die jüdische Bevölkerung voranzutreiben. In der Phase vor
den Deportationen in den Osten gelang einigen Bewohnern des Hauses
die Flucht ins Ausland. Die zuerst von Adolf Eichmann geleitete
"Zentralstelle für jüdische Auswanderung" im ehemaligen Palais
Rothschild kontrollierte bald Vorbereitung und Abwicklung der
großangelegten Vertreibung. In der Wohnung Nr. 8., Berggasse 19
wohnte seit 1923 die Familie Hauser. Im Juli 1938 unterstützte
Rudolf Hauser mit finanziellen Zuwendungen die Emigration seiner
Kinder. Friedrich Hauser, der älteste Sohn, wanderte mit seiner
Familie und seiner Schwester Lisbeth nach Amerika aus; der zweite
Sohn, Franz Hauser, emigrierte ein Jahr später nach London. Nachdem
Rudolf Hauser Ende 1938 seinen Handel mit Tuch- und Futterwaren
aufgeben musste, entschlossen er und seine Frau sich zur Emigration
in die USA.
Remigration
Die
Wiener jüdische Gemeinde zählte vor der nationalsozialistischen
Verfolgung mit rund 170.000 Juden zu den größten deutschsprachigen
Gemeinden Europas. 1945 verzeichnete die Israeltische Kultusgemeinde
nur noch 4000 Mitglieder, die in Verstecken überlebt oder aus
Vernichtungslagern zurückgekehrt waren. Für Exilanten bot sich eine
Rückkehr nach Österreich in den ersten Jahren nach dem Krieg nur in
den seltensten Fällen an. Die Berichte in ausländischen Zeitungen
zeichneten ein abschreckendes Bild aus neu aufflackerndem
Antisemitismus, verschleppten Entnazifierungen und verzögerten
Rückstellungen. Unter diesen Bedingungen wagte nur ein einziger der
ehemaligen Bewohner des Hauses Berggasse 19 den Schritt zurück nach
Wien. Emil Humburger veranlasste wohl die unsichere politische
Situation in Palästina zur Rückreise mit einem der ersten
Heimkehrer-Transporte 1947.
Rückkehr aus dem Lager
Von
den zwischen 1939 und 1941 in die Wohnung Nr. 14 eingewiesenen Juden
kehrten 1945 drei aus Konzentrationslagern zurück. Am Beispiel von
Emil Ehrenstein lassen sich die Hürden österreichischer
Entschädigungsregelungen ermessen. Wurde der Anspruch auf Fürsorge
für politisch Verfolgte rasch gesetzlich fixiert, so unterblieb eine
solche Regelung für jüdische KZ-Überlebende noch längere Zeit.
Entschädigungs- und Rückstellungspraxis der Zweiten Republik
Die
österreichische Rückstellungspraxis wird in der Ausstellung am
Beispiel des Gassenlokals der ehemaligen Großfleischhauerei Siegmund
Kornmehl thematisiert. Bis schließlich die österreichische Regierung
während der NS-Zeit entzogene Mietrechte symbolisch entschädigte,
hat es mehr als 50 Jahre gedauert. Die Nachbarn Freuds, von denen
keiner nach 1945 wieder die alte Wohnung bezog, erreichte diese Form
der Entschädigung nicht mehr.
Toninstallation
In
FREUDS VERSCHWUNDENE NACHBARN ergänzt eine Toninstallation
die dokumentarische Ästhetik der Ausstellung mit Ausschnitten aus
Interviews. Passagen aus Gesprächen mit Nachkommen der Bewohner, mit
Psychoanalytikern, Museumsbesuchern und Hausbewohnern verwandeln das
Haus Berggasse 19 in einen Resonanzraum unterschiedlicher und
mitunter widerstreitender Erinnerungen und Vorstellungen.
Radio-Feature
Anlässlich der Ausstellung FREUDS VERSCHWUNDENE NACHBARN
produziert Ö1 das Radio-Feature "Berggasse 19", das am
10. Mai 2003 um 9.05 Uhr im Rahmen der Sendereihe
"Hörbilder" ausgestrahlt wird. Gestaltung des Features: Chirine
Ruschig.
Begleitpublikation
Zur
Ausstellung erscheint ein Katalog (Herausgeberin: Lydia Marinelli,
deutsch, ca. 200 Seiten, zahlreiche
Illustrationen, Turia + Kant: Wien, 2003) mit Beiträgen von
Lydia Marinelli, Felix de Mendelssohn, Oliver Rathkolb, Inge
Scholz-Strasser, Heidemarie Uhl und Moshe
Zuckermann.
FREUDS VERSCHWUNDENE NACHBARN wurde vom
bm:bwk
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur und der Stadt
Wien MA 7, Wissenschafts- u. Forschungsförderung unterstützt.
Eröffnung
Dienstag, 25. März 2003, 18 Uhr
Ort
Sigmund Freud-Museum Wien
Berggasse 19
1090 Wien
Dauer
26. März – 28. September 2003
Öffnungszeiten
tägl. März–Juni 9–17 Uhr, Juli–September 9–18 Uhr
Eintritt
Erwachsene Euro 7,–
Viennaticket, Pensionisten Euro 5,–
Studenten Euro 3,50, Schüler Euro 3,–
Ö1-Club 20% Ermäßigung
Führungen
Jeden Sonntag um 15 Uhr und gegen Voranmeldung
Tel. (+43) 1 319 15 96
Schulklassen
Schüler führen Schüler – ein Vermittlungsprogramm von Schülern
des Erich Fried-Realgymnasiums gemeinsam mit dem Sigmund
Freud-Museum Wien
Führungstermine: Mai: jeden Mittwoch 9–9.50 Uhr und
10–10.50 Uhr für Unterstufen sowie 14–14.50 Uhr und
15–15.50 Uhr für Oberstufen
Juni und September zusätzlich jeden Donnerstag für Unter- und
Oberstufen jeweils vormittags und nachmittags
Anmeldung sowie weitere Schülerführungen: Sigmund Freud-Museum Wien
Tel. (+43) 1 319 15 96, Fax (+43) 1 317 02 79
E-Mail
office@freud-museum.at
Begleitprogramm
Vortragsreihe in Kooperation mit dem Österreichischen Institut
für Internationale Politik:
25.4.2003 (Moshe Zuckermann) und 13.6.2003
Informationen ab dem 25. März 2003 unter
www.freud-museum.at
hagalil.com
13-03-03 |