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Mühsal der Erinnerung:
Zur Darstellbarkeit der Shoah

Von Moshe Zuckermann

Was ist es am Holocaust, das die Frage seiner Darstellbarkeit zu einer solch gravierenden, von moralischen wie ästhetischen Erwägungen dermaßen durchzogenen Problematik werden ließ, dass Theodor W. Adorno sich seinerzeit auf die apodiktische – wiewohl in späteren Jahren aufgeweichte und aufgehobene – Position eines wesenhaften Zweifels an der Möglichkeit, ja der Wünschbarkeit seiner Darstellung zurückzog? Die Frage beantwortet sich vermeintlich wie von selbst: Es ist vor allem die Unfassbarkeit des weltgeschichtlichen Ereignisses, seine monströsen Ausmaße, die ihm eigene zeitliche Dichte und spezifische verbrecherische Intensität, die jeden Versuch, dieser sich durch die Repräsentation zu bemächtigen, als unzulänglich erscheinen lassen. Das Unsägliche am Holocaust, sein Unfassliches, das sich rationaler – historiosophischer, theologischer oder kultureller – Sinndeutung verweigert, entzieht sich, dieser Auffassung zufolge, der Wirkmächtigkeit konventioneller begrifflicher oder bildlicher Darstellungsmuster samt ihrer althergebrachten Ausdrucksmittel (1).

Dem kann zwar an sich zugestimmt werden, gleichwohl erhebt sich dabei die Frage, ob das Kriterium der Angemessenheit nicht letztlich auf jegliche Art der Repräsentation von Gewesenem anwendbar sei. Denn eines dürfte mittlerweile klar geworden sein: Jeder späteren Nachzeichnung von Geschehen, und sei es der trivialer Alltagsbegebenheiten, eignet ein notwendiges Moment der Verzeichnung an, mithin ein den Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit stets konterkarierendes Element der Entstellung. Das hat nicht unbedingt etwas mit Ideologie zu tun, sondern rührt vielmehr von der immanenten Beschränktheit jeglichen darstellenden Nacherlebens her, welches ja immer auf die Mittel der Selektion, der Reduktion und der Kodierung angewiesen ist. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob dem Anspruch aufs konkrete Detail Genüge getan wird – allein schon die Tatsache, dass sich eine gelungene Wesensschau von Dargestelltem von einer anderen gelungenen unterscheidet, verweist darauf, dass etwas am Dargestellten in der Darstellung "anders" geworden sei. Die postulierte Unangemessenheit des Anders-geworden-Seins gilt aber für die Darstellung der Französischen Revolution, des Dreißigjährigen Krieges, aber eben auch für die schlichte Repräsentation englischen Landlebens im 17. oder des urbanen Treibens im London des 19. Jahrhunderts nicht minder als für den Holocaust.

Der Grund für die spezifischen Skrupel bei der Darstellung des Holocaust scheint also nicht in der grundlegenden Darstellungsproblematik als solcher zu liegen, sondern eben doch in der Besonderheit – in Israel insistiert man auch stets auf der Einzigartigkeit –, die diesem monströsen welthistorischen Ereignis beigemessen wird. Etwas Ersatzreligiöses schleicht sich in diesen Zugang ein: Ähnlich wie beim jüdischen Bildverbot, wird die schreckliche Erhabenheit des Darzustellenden, mithin die Affirmation seiner Unfasslichkeit, durch die Tabuisierung seiner Darstellung gewahrt (2). Dennoch korrespondiert das latent Ideologische dieses Umstands mit einer nur zu gerechtfertigten Kritik an der virulent gewordenen, allzu leichtfertig-unbeschwerten (mithin eben lustgewinnenden) Darstellung des Grauens: Die vereinnahmende Verdinglichung dessen, was sich seinem Wesen nach dem profanen Dingcharakter entzieht, ist nicht minder ideologisch als die Fetischisierung seiner Undarstellbarkeit. Es ist wohl vor allem dieses Moment von Unvereinbarem, dem Adorno Rechnung trug, als er schrieb: "Wer für Erhaltung der radikalen schuldigen und schäbigen Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel heraus; es rationalisiert einzig die eigene subjektive Unfähigkeit mit dem Stand der objektiven Wahrheit und entwürdigt dadurch diese abermals zur Lüge." (3) Bezeichnend ist an dieser Passage nicht nur ihr deprimierend Aporetisches, sondern dass es unter anderem auch darum geht, den "Stand der objektiven Wahrheit", mithin das In-die-Welt-gekommen-Sein des historischen Schreckens, nicht im Nachhinein noch durch das Verstummen vor dieser zu "entwürdigen". Man kommt also letztlich nicht um die Darstellung des Undarstellbaren herum, wenn man die Tatsache, dass es sich um Undarstellbares handelt, nicht zum Fetisch – der an sich noch einmal die subjektive Ohnmacht des Rezipierenden als ein Stück Narzissmus entlarvt – verkommen lassen möchte.

Was ist also das Besondere am Holocaust, das sich der Darstellung verweigert, zugleich aber der Darstellung unabdingbar bedarf? Adorno verdichtet seine Antwort auf folgenden Punkt: "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben." (4) Zu fragen ist allerdings, was dabei zu bedenken sei, insofern man der von Adorno skizzierten aporetischen Falle, wenn schon nicht gänzlich entrinnen, so doch in gewissem Maße Rechnung tragen möchte. Ein Grundverhältnis scheint in diesem Zusammenhang von besonders gravierender Tragweite zu sein: die Anonymisierung des Einzelschicksals im Gesamtablauf der industrialisierten Massenvernichtung. Nicht dass der Untergang des Individuums in historischen Massenprozessen – und in denen der europäischen Moderne zumal – nicht schon lange vorher signifikant geworden wäre. Was indes das Neue am Holocaust ausmacht, ist die auf den Apparaturen der Moderne basierende Institutionalisierung der Eliminierung von Individuellem: Nicht nur geht der Einzelne in der frenetisch aufbrüllenden faschistischen Masse unter, sondern das einzelne jüdische Opfer des nazistischen Vernichtungsapparates wird seines Individuellen schon dadurch beraubt, dass es des Privaten seines Todes verlustig geht, weil sein Tod administrativ geplant und bürokratisch vollzogen wird, mithin so in der Industrialisierungslogik der Vernichtung aufgeht, dass es in der Tat vom individuellen Einzelmenschen zum Exemplar mutiert. Das will wohlverstanden sein: Es geht hierbei nicht nur um die barbarisierte Intention des Nazischergen, sondern durchaus auch um die objektive Auswirkung der industrialisierten Monstrosität auf deren Rezeption. Denn wenn sich das Ungeheure durch nichts mehr kodieren lässt als durch den sloganhaften Ausdruck "sechs Millionen", kann das nicht ohne Wirkung bleiben auf die – wie immer sensibilisierte – Wahrnehmung des gemarterten Einzelschicksals.

Das wirft zwangsläufig große Probleme für jeden Versuch auf, den Holocaust in seinem Wesen zu erfassen und eine Darstellung, die über das Anekdotische hinausgeht, (5) zu wagen. Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die Aussage eines jungen Israeli, der Ende der 1970er Jahre, beeindruckt von der Hollywood-TV-Serie "Holocaust", erklärte, jetzt endlich habe er den Holocaust begriffen. Gefragt, wie es sein könne, dass in einem Land, in welchem es einen Holocaust-Gedenktag gebe, der Schul- und Universitätsunterricht eine profunde Information vermittle und viele Tausende von Shoah-Überlebenden noch lebten, gerade eine auf kulturindustriellen Vermittlungsformen basierende Fiktionalform hollywoodschen Zuschnitts den Holocaust "begreifbar" gemacht hätte, antwortete er schlicht: Wenn er die Leichenberge der Vernichtungslager in Dokumentarfilmen sehe, werde er paralysiert, fühle er nichts; mit dem Individualschicksal der TV-Familie Weiß hingegen vermag er sich zu identifizieren, da könne er sich am Holocaust "emotional beteiligen".

Zweierlei tritt hier zutage. Zum einen drückt sich in der Antwort des jungen Israeli ein psychologisches Bedürfnis aus, das Unnahbare am anonymen KZ-Leichenberg durch emotionale Einbindung dahin gehend zu überwinden, dass das an sich Unbegreifliche zumindest über das psychische "Dabeisein" gleichsam greifbar wird. Die in emotionaler Kälte sich manifestierende psychische Entfremdung bei der dokumentarisch realistischen Vermittlung erscheint ihm als unangemessene Reaktion – er möchte sich "beteiligen" können. Zum anderen mag aber eingewendet werden, dass genau darin das Problem liegt. Denn was heißt denn schon emotionale Einbindung im Angesicht der geschichtlichen Monstrosität? Verfehlt nicht gerade sie durch kathartische Gefühlsentladung das Wesen dessen, was sich psychischer Beruhigung und emotionaler Entsorgung versagen sollte? Ist nicht eine nie versiegende Rezeptionsspannung und -dissonanz im Eingedenken des großen Entsetzens zu wahren? Und wäre da nicht gerade die Gefühlserstarrung eine angemessene Reaktion im Anblick des todesstarren Menschenhaufens, Entfremdung die noch am ehesten adäquate Reaktion angesichts der industriell betriebenen Menschenvernichtung? Die beiden Pole – das emotionale Bedürfnis und seine "sachliche" Unangemessenheit – tangieren wiederum das Grundproblem der vermittelnden Darstellung, gehen aber über die allgemeine Frage der Repräsentationsschwierigkeit insofern hinaus, als sich in der Reaktion auf das Dargestellte nicht nur ein Erkenntnis-, sondern gewissermaßen auch ein moralisches Problem sedimentiert hat. Wenn es ein Adäquanzverhältnis zwischen dem historischen Holocaust und der Holocaust-Erinnerung gibt, so mag sich das psychische Bedürfnis der (das Entsetzen latent instrumentalisierenden) emotionalen Einbindung als Ausdruck eines subjektiven Narzissmus erweisen.

Nicht minder problematisch stellt sich jedoch in diesem Zusammenhang die beispielhaft individualisierende Darstellung der Shoah als umfassendes Geschichtsereignis, mithin als Zivilisationsbruch, dar. Denn gerade das Einzelschicksal begibt sich seines Individuellen, wenn es beispielhaft wird, also ein Exemplarisches intendiert. Wird aber das Einzelne in seiner spezifischen Eigentümlichkeit gewahrt, verfehlt man Wesentliches – namentlich das Entindividualisierende, die in der kruden Industrialisierung der Mordmaschinerie sich ausprägende Anonymisierung alles Einzelmenschlichen, die in absoluter Entfremdung kulminierende Verdinglichung des zu mordenden Menschenlebens, zugleich aber auch – damit aufs Engste zusammenhängend – des Bewusstseins des Henkers. Denn darin ist der Holocaust in der Tat (bislang) einzigartig in der Menschheitsgeschichte geblieben: in der Weise, wie das Hitler-Regime den geregelten Ablauf seiner Vernichtungsapparatur nach und nach perfektionierte, bis sie, ab einem bestimmten Zeitpunkt, "wie von selbst" zu funktionieren schien – eine pflichtbewusst administrierte, mit bürokratischer Indifferenz verwaltete Maschinerie, in der Opfer (in den Augen der Täter) und Täter (im ideologisch antrainierten Selbstbild) zu Charaktermasken entarteten. Das will wohlverstanden sein: Nicht um außergeschichtliche Einsichten geht es bei solcher Kennzeichnung, sondern um das Innewerden einer Struktur in der Kulminationsphase des Holocaust, in welcher Lakonik und Exzess, bürokratisierter Kadavergehorsam und ideologisierter Blutrausch sich wechselseitig durchwirkten, dabei aber auch den Menschen als Handlungssubjekt entindividualisierten, seiner autonomen Selbstbestimmung entkleideten.

In den gleichen Zusammenhang sei folgende Überlegung eingereiht. In einem Holocaust-Dokumentarfilm ist eine Szene zu sehen, in welcher ein deutscher Soldat eine Mutter von ihrem kleinen Kind trennt. Sie wendet sich zu einer Seite, das Kind zur anderen, es schaut seiner Mutter nach. Plötzlich kehrt die Mutter um, versucht verzweifelt, ihr Kind zu erreichen, aber der Soldat verjagt sie, trennt gewaltsam Frau und Kind. Eine herzzerreißende Szene, die den Hals zuschnürt, die Augen mit Tränen füllt. Warum aber zeitigen die nachfolgenden Bilder des Films, entsetzliche Aufnahmen von zu Bergen getürmten Leichen, entstellten, geschundenen, skeletthaft abgemagerten Menschenleibern, keine ähnliche Gefühlsreaktion, sondern eher die eines paralysierenden Schocks? Die Antwort dürfte im Unterschied zwischen bewegendem und lähmendem Entsetzen zu suchen sein. Das bewegende Entsetzen, so grauenvoll es an sich sein mag, vollzieht sich immer noch als ein Stück Leben, als "dramatischer" Moment im Dasein von Mutter und Kind, ehe auch sie als Leichen auf jenen Haufen toter Körper, jeglicher Individualität durch Massentod, jeglichen Kennzeichens lebender Wesen beraubt, geworfen werden. Man kann sich mit einer Leiche nicht identifizieren, sondern nur mit dem, was sie war, bevor sie zur Leiche wurde – mit ihrem einzelmenschlichen Leben. Während aber die einzelne Leiche noch die nachträgliche Projektion ermöglicht, die Identifikation eben mit dem, wessen sie beraubt worden ist – ihres Lebens –, lässt der Massentod, der die Anonymisierung des Allerprivatesten eines Individuums – seines Todes – erzwingt, auch das unmöglich werden. Weil er sich jeglicher Identifikationsgrundlage entzieht, bewirkt der Leichenberg ein starres Gefühl der Lähmung: das lähmende Entsetzen birgt in sich die Form extremster Entfremdung. Der Holocaust umfasste all dies: das Drama der Mutter, des Kindes und des deutschen Soldaten wie auch die sich türmenden Berge entstellter Leichen. Insofern aber der Holocaust seinen eigentlichen Kulminationspunkt in der Einrichtung der industriellen Massenvernichtungsapparaturen erreichte, sein Wesen sich mitunter in der administrativ-bürokratischen Anonymisierung des Todes niederschlug, entfremdet er zwangsläufig die emotionale Reaktion, paralysiert den mit einem solchen monumentalen Grauen konfrontierten Einzelnen. Die Gefühlsregung, Rettungsanker des Individuums, mag da in der Tat den Holocaust in seinem Wesen verfehlen.

Ein nagender Gedanke: Wie nun, wenn sich die emotionale Rührung angesichts der zwischen Mutter, Kind und Soldaten sich im Dokumentarfilm abspielenden Szene nicht von der Rührung bei einer "ähnlichen" Szene im inszenierten Kinofilm unterscheidet. Hat man etwa die bei "solchen Szenen" aufkommende Rührung durch Kinofilme erlernt? Bei allem Zweifel besteht doch ein wesentlicher Unterschied, der jegliche simple isomorphe Analogie unterwandert: Das Ende der Kinofilmszene hätte im gesamten Verlauf ihrer Produktion verändert werden können; das Happy End ist eine reale Option in jeder Phase ihrer bis ins allerletzte Detail durchgeplanten Entstehung. Das grauenvolle Ende des realen historischen Ereignisses kennt man hingegen von vornherein (oder ahnt es zumindest mit einiger Gewissheit). Seine Tragik stellt keine kompositorische Option dar, sondern ist die unabwendbare Konsequenz des Allerschlimmsten. Das Schaudern, das einen bei dieser Szene erfasst, rührt von einer gewissen, die Dokumentation durchwirkenden psychischen Konstellation her: das kurze Aufscheinen atavistischen Grauens in Verbindung mit dem Bewusstsein einer der irreversiblen historischen Ohnmacht zugrunde liegenden Gewalt.

Die Problematik der Holocaust-Darstellung betrifft also mehrere, teils verschwisterte, teils voneinander unabhängige Ebenen, denen sich eine weitere, von der Rezeptionslogik sich herleitende hinzugesellt. Denn wenn bislang das Wesen der historischen Barbarei erörtert wurde, die sich bei der Synthese von Individuellem und Allgemeinem erweisende Schwierigkeit, die der Repräsentation innewohnende Entstellungsproblematik, so lässt die Verlagerung der vorgelegten Überlegungen vom Bereich des eigentlichen Gegenstands (des Holocaust als historischem Ereignis) auf die Ebene seiner Rezeption ein zusätzliches – gravierendes – Problem deutlich werden. Denn von Anbeginn war die Holocaust-Rezeption nicht nur durch die genuinen Versuche, die Logik des Monströsen wissenschaftlich, philosophisch, auch künstlerisch zu erfassen, gekennzeichnet, sondern in nicht minderem Maße auch durch dessen instrumentalisierende Vereinnahmung (6) und heteronome Ideologisierung (7). Gemeint sind hier die eher strukturbedingten Formen der Vereinnahmung, weniger deren von bewusster Ausbeutung getragenen, grobschlächtigen Entartungen. Die wohl prägnanteste Manifestation solcher Ideologisierung lässt sich in der zweckhaften Teleologisierung der Shoah im Sinne der zionistisch-politischen Ideenwelt nachweisen. In der Tat gilt der Nexus zwischen Israel und dem Holocaust gemeinhin als so selbstverständlich, dass es nahezu aussichtslos erscheinen mag, etwas an ihm in Frage stellen zu wollen. Nicht nur verdankte sich die Staatsgründung Israels – wenn nicht ausschließlich, so doch in erheblichem Maße – dem Impetus des Holocaust bzw. dem Entsetzen, welches das Wissen um seine unfassliche Monstrosität bei der "Weltöffentlichkeit" auslöste, sondern es war auch dieser neu entstandene Staat, der aus dem nämlichen Grund das Andenken des Holocaust von Anbeginn monopolisierte. Wie sollte es auch anders sein? – wird man sich fragen. Die Hauptopfer des Holocaust waren ja Juden; was hätte also näher liegen sollen, als dass der Staat der Juden ihrer gedachte? Wenn darüber hinaus gerade mit der Errichtung eines Judenstaates das im Holocaust kulminierende "Problem" der "jüdischen Frage" nun endgültig positiv "gelöst" werden konnte, war ja sozusagen eine kausale Verbindung hergestellt, die den Holocaust fortan an Israel, vor allem aber an seine staatstragende Ideologie, den Zionismus, gleichsam paradigmatisch kettete. Das sich in diesem Kontext geschichtlich gebende, seinem Wesen nach freilich ahistorische Darstellungsmuster ist bekannt: Das mit dem Zusammenbruch des altisraelischen Königreiches einsetzende Exildasein der Juden gelangt mit der Begründung der jüdischen Staatssouveränität in der gegenwärtigen Geschichtsepoche zu ihrem prinzipiellen Ende, wobei die Shoah als entscheidendes Wendeglied des großen Übergangs von der geschichtlichen Katastrophe zur säkularen Auferstehung (bzw. zur religiös gedeuteten "Erlösung") gedeutet wird. (8)

Die ideologischen Zwecke des aktionistischen Zionismus paarten sich bei dieser Deutung mit den psychologischen und sozialpsychologischen Bedürfnissen israelischer Juden, der Geschichtskatastrophe einen (und sei es profanen) Sinn abzutrotzen, mithin kraft solcher Sinndeutung die Überlebensfähigkeit und Zukunftsperspektive des Kollektivsubjekts vor sich selbst zu bestätigen. Dass sich dabei die in sich verständlichen Sicherheitsbedürfnisse der Juden Israels mit einer zunehmenden ideologischen Fetischisierung der "Sicherheit" samt weitreichenden Folgen für den gesamten Nahostkonflikt verbanden, ist nur ein Aspekt dieser Entwicklung. Es mag als bezeichnend gelten, dass selbst ein Mann wie Claude Lanzmann, der mit seiner monumentalen Filmdokumentation "Shoah" immerhin einen der bedeutendsten Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust-Gedenken geliefert hat, das Thema "Zahal" (das hebräische Akronym des Namens der israelischen Armee) als zweiten Teil seiner geplanten Trilogie, mithin als Fortsetzung des "Shoah"-Werks, gewählt hat. Es versteht sich von selbst, dass eine solche ideologische Zurichtung der Shoah-Rezeption zentrale Dimensionen des realen Geschichtsereignisses, etwa das gravierende Moment der Ohnmacht der Opfer, heteronom einfärben muss. Die Ohnmacht wird nicht aus der immanenten Logik der historischen Gewaltverhältnisse rezipiert, sondern in den Kontext nachmaliger (ideologischer) Entrüstung gestellt: So wie sich viele israelische Juden der so genannten zweiten Generation in den 50er und 60er Jahren "weigerten" zu begreifen, wie man sich "wie Vieh auf die Schlachtbank" habe führen lassen können, so institutionalisierte der jüdische Staat den Gedenktag im Geiste gleicher Indignation als "Tag der Erinnerung an die Shoah und den Heldenmut". "Heldenmut" hatte eher etwas mit den Erziehungsidealen des zionistischen Staates im Hinblick auf die Schaffung des "neuen Juden", der den diasporischen ablösen sollte, zu tun, als mit einer im Verhältnis zum Ausmaß der Katastrophe und deren realen Gewaltmechanismen irgend vertretbaren Gewichtung, die dem Heldenmut, und sei es auch nur nominell, den gleichen Stellenwert einräumt wie der Verfolgungs- und Vernichtungsrealität selbst. Es erübrigt sich, in diesem Rahmen auszuführen, welche Auswirkungen eine solche Ideologisierung des Geschichtsereignisses auf die zentralen Fragestellungen und Darstellungsmuster seiner narrativen Repräsentation haben musste.

Eine nicht minder gravierende ideologische Beeinträchtigung der Holocaust-Rezeption leitet sich von strukturell partikularisierten Sichtweisen und Positionen her, welche eine zwangsläufige Parzellierung der Holocaust-Erinnerung, mithin aporetische Widersprüche in seiner Deutung und Darstellung, zutage fördern. Paradigmatisch sei das antinomische Holocaust-Verständnis des säkularen Zionismus und der jüdisch-religiösen Orthodoxie im Kontext des israelischen Diskurses angeführt. Für das orthodoxe Judentum (das ultraorthodoxe zumal) gilt das zionistische Projekt als eine besonders schlimme Form kollektiver jüdischer Häresie: Die vom weltlichen Zionismus angestrebte Gründung eines jüdischen Staates wurde als ein eigenmächtiger Ein- bzw. Vorgriff auf die gottgewollte messianische Erlösung des jüdischen Volkes, welche die Neuerrichtung des altjüdischen Königreiches und damit die Neuerbauung des zerstörten Gottestempels erst eigentlich ermöglichen soll, aufgefasst. Nicht von ungefähr legen bis heute die religiösen Ultras des Judentums – neben dem allgemeinen, durch Aufklärung (Haskala) und Assimilation forcierten Abfall vom orthodoxen Glauben – vor allem die Hybris des politischen Zionismus als Ursache für die göttliche Bestrafung des jüdischen Volkes durch den Holocaust aus. Auf einer anderen Ebene werden dabei die Zionisten selbst zuweilen bezichtigt, den Holocaust als "notwendig" für eine Gründung des Staates Israel erachtet zu haben, am Holocaust gar "in gewissem Maße" interessiert gewesen zu sein. Andererseits werden auch exponierte Vertreter der historischen orthodox-rabbinischen Führung noch heute von Zionisten beschuldigt, eine mögliche Masseneinwanderung von Juden nach Palästina in den 30er Jahren mit dem Schiedsspruch, "die Mauer nicht zu besteigen" (also nicht nach Zion auszuwandern), verhindert zu haben, womit sie das Schicksal ihrer Gemeinden besiegelt hätten. Einen prägnanten Höhepunkt erreichte die unter solchen konträren Vorzeichen geführte Debatte, als vor einigen Jahren eine führende politische Persönlichkeit aus der Jerusalemer Religionsorthodoxie mit der Forderung hervortrat, die Bilder nackter, in den Tod getriebener jüdischer Frauen von den Wänden Yad-Vashems abzuhängen, weil sie "unzüchtig" seien. Höchst bezeichnend war dabei, dass er die entrüsteten Reaktionen nichtreligiöser Bürger mit dem Hinweis parierte, die orthodoxen Juden hätten "eine andere Narration" des Holocaust als die Zionisten; mithin wäre es überhaupt an der Zeit, dass sie ihr eigenes Yad-Vashem bekämen.(9) Das schlechthin Unvereinbare sticht ins Auge: Während der Zionismus den Holocaust (auch) als ideologische Begründung der Notwendigkeit einer jüdischen Staatsgründung heranzieht, wird der Zionismus, mithin seine ideologische Aspiration, den Judenstaat säkular-eigenmächtig errichten zu wollen, von der jüdischen Religionsorthodoxie als Ursache der Shoah bzw. diese als Gottes Bestrafung eben dieser Aspiration ausgelegt.

Die hier erörterte Fragmentierung der Shoah-Erinnerung stellt an sich kein Problem dar. Das lebensweltliche Individualgedenken bzw. die partikularisierten gemeinschaftlichen Formen der Geschichtserinnerung bilden sich ja eigenständig, können mithin nicht "von oben" vorgeschrieben werden. Das Problem stellt sich erst im Kontext des Anspruchs auf kollektiv verbindliche Erinnerungsmodi, wie beispielsweise im Fall des staatsoffiziellen zionistischen Narrativs, bzw. wenn Deutungsmuster so eklatant auseinander klaffen wie beim politischen Zionismus und der jüdischen Religionsorthodoxie. Für die Erforschung der Holocaust-Darstellung dürfte diese sich deutlich abzeichnende Heterogenisierung des Gedenkdiskurses die brisanteste Herausforderung in den kommenden Jahren abgeben.

Unerörtert soll in diesem Rahmen der zuvor zwar kurz angerissene, jedoch eine ungleich größere Aufmerksamkeit verdienende Komplex "Holocaust und Kunst" bleiben.(10) Stattdessen sei hier zum Schluss nochmals kurz auf das Mosaikhafte all dessen, was unter dem Begriff "Holocaust" subsumiert wird, eingegangen. Es versteht sich von selbst, dass die industrialisierte Form der Judenvernichtung stets den "Vorrang" im Bewusstsein der unsäglichen Shoah-Leiderfahrung haben wird und haben muss. Denn in ihr verdichtet sich in der Tat das, was man – kodierend – "Zivilisationsbruch" genannt hat. Unfassbar bleibt diese spezifische Dimension der monströsesten aller bislang bekannten Verfolgungs- und Repressionspraktiken letztlich bis zum heutigen Tag. Gleichwohl umfasst die Holocaust-Realität mehr als diese eine Dimension, und zwar nicht nur im Sinne der Vorgeschichte dessen, was dann im Allerschlimmsten kulminierte, sondern im Hinblick auf die im Gesamtkode "Shoah" oft ausgeblendete Gleichzeitigkeit anderer, teils parallel, teils komplementär, teils "kontrapunktisch" zur Vernichtungsmonstrosität verlaufenden Lebenswirklichkeiten. Nicht einer ideologisch höchst prekären Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus, gar von Auschwitz, soll hier das Wort geredet werden. Die ihr inhärierende, wenngleich nicht unbedingt intendierte Normalisierungstendenz sollte stets kritisch betrachtet werden. Wenn man aber das Mosaik des Gesamtereignisses Holocaust, gleichsam seine Anatomie, vor allem aber seine lebensweltliche Genealogie, und sei es im Ansatz, erfassen will; wenn man die Prägnanz des Vordringlichen im Kontext des nicht Vordringlichen begreifen möchte; wenn man darüber hinaus die Anonymisierung des Einzelnen in der Maschinerie der Vernichtungspraxis von Auschwitz nicht – symbolisch – durch die Anonymisierung dessen, was der Prägnanz der Vordringlichkeit entbehrt, reproduzieren möchte, dann ist es unabdingbar, dem Kontext dessen, was prominent einen Primat beansprucht, sorgfältig und geduldig nachzugehen. Kaum anzunehmen, dass "Berggasse 19" ohne Freud besondere Aufmerksamkeit im Kontext der hier anvisierten weltgeschichtlichen Ereignisse erregt hätte. Aber "Berggasse 19" war Freuds lebensgeschichtlicher Kontext. Schon deshalb beansprucht diese Adresse Aufmerksamkeit. Und in allerletzter Hinsicht: eben nicht nur deshalb.

Aus der Begleitpublikation zur Ausstellung "Freuds verschwundene Nachbarn". Herausgeberin: Lydia Marinelli, deutsch, ca. 200 Seiten, zahlreiche Illustrationen, Turia + Kant: Wien, 2003) mit Beiträgen von Lydia Marinelli, Felix de Mendelssohn, Oliver Rathkolb, Inge Scholz-Strasser, Heidemarie Uhl und Moshe Zuckermann.

Anmerkungen:
(1) Bei Adorno kam dabei noch das Problem des durch Kunst erzeugten Lustgewinns und der damit einhergehenden kathartischen Ent-Spannung des Verhältnisses zum Monströsen. Es war wohl Celans "Todesfuge", die bei ihm ein Überdenken seiner Position gezeitigt hat.
(2) Es darf freilich nicht übersehen werden, dass gerade die extensive Darstellung des Holocaust in der amerikanischen Populärkultur der letzten zwanzig Jahre mit dazu beigetragen hat, die Shoah zu einer Art Ersatzreligion bei der säkularen jüdischen Identitätsbildung werden zu lassen.
(3) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 360.
(4) Ebd., S. 355.
(5) Allein schon, dass das Einzelschicksal des Opfers als anekdotisch begriffen werden kann, verweist darauf, wie sehr sich das Massenhafte des Grauens ins Bewusstsein eingeprägt hat: Man weiß wohl, dass jede/jeder als Individuum starb, und dennoch kann man sich dem unweigerlich dabei aufkommenden Gefühl des "gemessen an …" kaum entziehen. Auch in dieser Hinsicht schlägt Quantität in Qualität um.
(6) Vgl. hierzu Moshe Zuckermann: Die Instrumentalisierung der Vergangenheit. In: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, Heft 8, Sonderheft (2000), S. 13–18.
(7) Vgl. hierzu Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen: Wallstein 1998.
(8) Vgl. hierzu Moshe Zuckermann: Israel und der Holocaust: Die Ideologisierung einer Wende. In: Perspektiven, 34/35 (Dezember 1998), S. 1.
(9) Vgl. hierzu Moshe Zuckermann: Die Parzellierung der Shoah-Erinnerung im heutigen Israel. Vom historischen Ereignis zum Gegenstand ideologischer Projektion. In: Eleonore Lappin, Bernhard Schneider (Hg.): Die Lebendigkeit der Geschichte. (Dis-)Kontinuitäten in Diskursen über den Nationalsozialismus. St. Ingbert: Röhrig 2001, S. 47–62.
(10) Vgl. hierzu Moshe Zuckermann: Gedenken und Kulturindustrie. Ein Essay zur neuen deutschen Normalität. Berlin & Bodenheim: Philo 1999, S. 93 ff.

hagalil.com 13-03-02

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