"Ich empfinde
Verachtung und - Angst":
Marcel Reich-Ranickis
Dankesrede
Vergangene Woche wurde Marcel Reich-Ranicki mit der
Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München
ausgezeichnet. In seiner Dankesrede griff er Martin Walser wegen seines
neuen Buchs "Tod eines Kritikers" scharf an und äußerte seine Sorgen um
die literarische Zukunft des Landes:
"In angelsächsischen Ländern wird dringend empfohlen, eine Rede mit
einem Scherz zu beginnen. Ich bitte um Entschuldigung, denn ich kann
diesen Ratschlag hier und heute nicht befolgen. Mißverstehen Sie mich
nicht: Ich habe nicht plötzlich meinen Humor eingebüßt, ich möchte auch
niemandem die gute Laune verderben. Aber jubeln und jauchzen kann ich
nicht. Und ich kann nicht verheimlichen, was ich in diesen Wochen in dem
Land empfinde, dessen Bürger ich bin: Ich empfinde Verachtung und -
Angst. Das sind große Worte, ich weiß es. Aber ich kann sie nicht
mildern oder gar zurücknehmen.
Ein Autor, der von einem Kritiker mehrfach ungünstig und vielleicht auch
gelegentlich boshaft beurteilt wurde, holt zum Gegenschlag aus. Das ist in
der Geschichte der Literatur unzählige Male passiert. Ein Grund zur
Aufregung ist das nicht. Jeder kennt Goethes Gedicht, das mit den Worten
endet: "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." Damals wurde
sofort verstanden, wogegen dieser Aufruf gerichtet war - gegen die Kritik
als neuetablierte Institution des literarischen Lebens. Goethe wurde nicht
ganz ernst genommen, man hielt ihm seine Jugend zugute.
Auch dem Erzähler vom Bodensee, der freilich keine Ermäßigung für Jugendliche
in Anspruch nehmen kann, da er über fünfundsiebzig Jahre alt ist, hätte man
ein hartes Wort gegen seinen Kritiker gewiß verziehen. Nur hat er nicht ein
freches Gedicht geschrieben, sondern einen ganzen Roman, und dessen Fazit
lautet nicht etwa "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent", sondern
"Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Jude." So lese ich diesen Roman,
anders kann ich es nicht.
Was ist so schrecklich an diesem Buch? Einen Autor, der im "Dritten Reich"
aufgewachsen ist und, wie er uns selber berichtete, im
nationalsozialistischen Geist erzogen wurde, überkommt die Wut: Er kann
seine Affekte nicht mehr beherrschen. Das ist zunächst einmal abstoßend.
Daß aber dieser Autor tatsächlich glaubte, jetzt, gerade jetzt sei in der
Bundesrepublik Deutschland endlich der Augenblick, seinem Haß freien Lauf zu
lassen - das ist das Beunruhigende, das Gefährliche. Mehr noch: Daß manche
Journalisten und vereinzelte Germanisten mit dem Mann vom Bodensee
gemeinsame Sache machen, daß ein bekannter Münchener Kritiker, den ich zu
meinen Freunden zählte, sich nicht entblödet, diesen Roman zu verteidigen
und zu loben, daß der Suhrkamp-Verlag, dessen Chef und Mitinhaber, Siegfried
Unseld, sich rühmte, in seinem Haus sei "wie an keinem anderen Ort die
unvergleichliche Produktivität einer letzten Generation deutsch-jüdischer
Gelehrsamkeit" konzentriert, dieses schändliche Buch verlegt hat und an ihm
jetzt ein Vermögen verdient - das alles, ich gebe es zu, erfüllt mich mit
Trauer und eben auch mit Angst.
Was hat sich geändert? Die oft beschworene Ära der Suhrkamp-Kultur ist
abgeschlossen, es wird sie nie wieder geben. Der Ruf dieses Hauses ist in
hohem Maße beschädigt, der Verlag ist besudelt. Wir werden uns damit
abfinden. Die Publizisten und einige wenige Publikationsorgane, die
ebenfalls besudelt dastehen, werden weiterwirken, natürlich. Auch damit
werden wir uns abfinden, und es fällt nicht sonderlich ins Gewicht, wenn man
bedenkt, daß in den meisten Blättern, vor allem in der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung", in der "Frankfurter Rundschau", im "Spiegel" und in
der "Literarischen Welt" ausführliche Artikel erschienen sind, die den Roman
aufmerksam analysieren und empört zurückweisen.
Wo also, frage ich noch einmal, ist der Grund zur Angst und zur Trauer? Ganz
einfach: Schon sind rund hundertfünfzigtausend Exemplare dieses Buches im
Umlauf, eines Romans, der gegen die Juden hetzt, der, hier und da dem
Vorbild des "Stürmers" folgend, Ekel hervorrufen möchte. Welche Folgen
werden sich daraus ergeben? Ich weiß es nicht, denn ein solcher Roman ist
nach 1945 in deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden. Ich weiß es
nicht, ich fürchte mich. Ich bin nun 82 Jahre alt, doch der Autor vom
Bodensee kann sich nicht damit abfinden, daß ich noch lebe und arbeite. Er
kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist
auf grausame Weise ungeduldig.
Und wie viele Nachahmer werden diesem Autor folgen? Schon hat sich ein
Trittbrettfahrer zu Worte gemeldet, und es könnten sich noch andere an dem
schmutzigen Erfolg beteiligen wollen. Wenn ein solches Buch, das man doch
als trübes Symptom verstehen muß, in Deutschland im Jahre 2002 möglich ist -
was kann da noch möglich sein? Das frage ich. Und ich bitte Sie um
Verzeihung, daß ich mir erlaubt habe, in dieser festlichen Stunde von jenem
dubiosen und düsteren Buch zu sprechen, das vom Ufer des Bodensees kommt und
nun in ganz Deutschland verbreitet ist. Diese neue deutsche Mordphantasie
hat meine Frau und mich, das darf ich doch sagen, tief getroffen.
Jetzt aber ist höchste Zeit, sich dem Anlaß zuzuwenden, der uns heute hier
zusammengeführt hat. Ich danke vom Herzen dem Rektor der
Ludwig-Maximilians-Universität München für die hohe Auszeichnung, die mir
zuteil wird. Ich danke jenen, die an diesem Beschluß beteiligt waren, ich
danke ganz besonders Wolfgang Frühwald für seine schöne, seine nachdenkliche
Lobrede.
Doch will ich nicht verheimlichen, daß sich zur Freude über diese hohe Ehre
gleich eine gewisse Verlegenheit gesellte. Seine Magnifizenz, der Herr
Rektor Heldrich, sagte mir, daß man von mir eine Dankrede erwarte, möglichst
vierzig Minuten lang. Ich fragte schüchtern nach dem gewünschten Thema und
bekam zu hören, dies sei nun ganz mir überlassen. Sie erwarten vielleicht,
bemerkte ich scherzhaft, daß ich das Thema "München leuchtete" wähle. Kaum
war mir das Wort entfahren, wollt' ich's im Busen gern bewahren. Doch schon
war es zu spät. Denn Magnifizenz sagte rasch, dies sei in der Tat das
allerbeste Thema, darüber müsse ich unbedingt sprechen. Da war's um mich
geschehn, da steh' ich nun, ich armer Tor - und muß über München reden.
Nun, ich will nicht sagen, ich sei ein extrem wortkarger und schweigsamer
Mensch. Aber München kenne ich kaum. Als ich, beinahe noch ein Kind, jene
Novelle Thomas Manns las, die mit den berühmten Worten beginnt, übrigens
eine seiner schwächsten Geschichten, da habe ich mir die Frage, wer oder was
in München leuchtet, noch gar nicht gestellt. Es konnte ja nur, meinte ich,
die Sonne sein. Aber das trifft eben nicht zu.
Wie sie in München leuchtet, genauso versieht die Sonne ihren Dienst in Wien
oder in Stuttgart. Sie scheint über Gerechte und Ungerechte, sie ist
gleichgültig und gnadenlos. Als im Warschauer Getto tagaus, tagein Tausende
und Zehntausende in stinkende Viehwaggons gepeitscht wurden, um zu den
Gaskammern gebracht zu werden, was tat da die Sonne? Nun ja, sie tönte, wie
es ihre Art ist, nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, sie strahlte
vom frühen Morgen bis zum späten Abend - ununterbrochen und unbarmherzig.
Nie habe ich an der Weichsel herrlicheres Wetter erlebt. Ich habe damals, so
kindisch oder kurios dies auch klingen mag, die Sonne gehaßt.
Und wie war das denn vor genau hundert Jahren, im Juli 1902, als Thomas Manns
Novelle "Gladius dei" zum ersten Mal gedruckt wurde? Das habe ich erst
erheblich später begriffen, als ich einen zu wenig bekannten Roman Thomas
Manns las, den raffiniertesten und prächtigsten Unterhaltungsroman, den ich
kenne, den "Erwählten". Das Buch beginnt mit "Glockenschall" und
"Glockenschwall" über der ganzen Stadt. Aber wer - fragt der Erzähler -
läutet die Glocken? Denn die Glöckner sind an jenem Tag, wie alles Volk, auf
die Straße gelaufen, die Glockenstuben sind leer. Wer also läutet die
Glocken Roms? Thomas Mann antwortet klar: Es ist der Geist der Erzählung.
Genauso ist es um München in der Novelle "Gladius dei" bestellt. Also: Es
stimmt schon, in München lag alles, wie es bei Thomas Mann heißt, "in dem
Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages", und es "spannte sich strahlend
ein Himmel von blauer Seide". Ja, tatsächlich war es anders als in Wien oder
in Stuttgart oder sonstwo, aber es war in München anders nur deshalb, weil
Thomas Mann es so wollte. München leuchtete, jawohl, doch nur deshalb, weil
es dem Geist der Erzählung gefiel, München leuchten zu lassen.
Meine Vorstellung von München wurde erst einmal von der Literatur geprägt. Denn
es ging meinen Eltern schlecht, die Bahnreise nach München konnten sie mir
nicht spendieren. Aber ich las viel, ich las auch den Münchener Autor Lion
Feuchtwanger. Wenn die Rede auf seine Vaterstadt kam, nahm er kein Blatt vor
den Mund. Er war ein Schriftsteller mit Witz und Pfiff, nur näherte er sich
bisweilen dem Albernen, und hier und da hat ihn sein Geschmack im Stich
gelassen. In Bayern jedenfalls hatte man wenig Sinn für Feuchtwangers Humor,
und man nahm ihm vor allem sein Hauptwerk übel, den Roman "Erfolg" aus dem
Jahre 1930.
Dieses München-Buch spielt in der Geschichte der modernen deutschen Literatur
eine immer noch unterschätzte Rolle. Es demonstrierte, seinen Schwächen zum
Trotz, neue Möglichkeiten, den Alltag der Großstadt, ihren Rhythmus und ihre
Atmosphäre mit den Mitteln der Epik bewußt und spürbar zu machen. Die
Modernität hätte man Feuchtwanger schon verziehen, nicht aber den Spott, mit
dem er die Bewohner dieser Stadt überschüttete. Neben den vielen scharf
verhöhnten Figuren im "Erfolg" gibt es nicht wenige, die Feuchtwanger
bewundert und liebevoll behandelt - und auch die sind allesamt Münchener.
Die heimliche Liebe des Juden Feuchtwanger zu Bayern fand keine Gegenliebe.
Mitte der zwanziger Jahre wurde für ihn die antisemitische Atmosphäre in der
Stadt, die sich zum Zentrum des Nationalsozialismus auswuchs, unerträglich,
ähnlich wie ein anderer deutsch-jüdischer Schriftsteller von Rang, wie
Arnold Zweig, ging auch Feuchtwanger von München nach Berlin.
1933 - er war schon im Exil - hat ihm die Ludwig-Maximilians-Universität seinen
Doktorgrad aberkannt. Zu einer Versöhnung zwischen Feuchtwanger und München
ist es nie gekommen. Den Doktortitel hat man ihm zwar wieder zuerkannt, aber
erst sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Offenbar hat sich
die Universität nur einer lästigen Pflicht entledigt, denn er wurde nicht
etwa eingeladen, seine Geburtsstadt aus diesem Anlaß zu besuchen, ja, man
hat ihn überhaupt nicht informiert: Die neue Urkunde fand Feuchtwanger
überraschend in seiner Post.
Vielleicht sollte man diesem Umstand keine sonderliche Bedeutung beimessen,
gleichwohl ist er symptomatisch. An den Schriftstellern, die man 1933
verjagt hatte, war man nach 1945 in den westdeutschen Ländern nicht
interessiert. Wer nicht in die DDR gehen wollte - wie es Brecht, Anna
Seghers, Arnold Zweig und einige andere taten und wie es Heinrich Mann
jedenfalls beabsichtigte -, hatte in Deutschland nichts zu suchen.
Feuchtwanger blieb in den Vereinigten Staaten, Remarque und Zuckmayer
entschieden sich für die Schweiz, Döblin kehrte nach Frankreich zurück.
Und wie war es mit ihm, der in den Jahren der deutschen Schuld und Schande das
deutsche Gewissen verkörperte, mit ihm, der Deutschlands Glück in
Deutschlands Unglück war, mit ihm, der während des Zweiten Weltkriegs zur
weithin sichtbaren Gegenfigur zu Adolf Hitler wurde? Thomas Mann hatte in
den Jahren der Weimarer Republik freundliche und anerkennende Worte für
München, er rühmte das Münchener Gemüt, aber er wußte auch, daß der Weg vom
Gemüt zur Gemütskrankheit bisweilen nur kurz ist. Wenn das deutsche Gemüt
nicht vom Verstand kontrolliert wird, dann könne es, Thomas Mann hat es
schon 1926 erkannt, eine große Gefahr werden, ja eine "Weltgefahr". Daß
München die "Hauptstadt der Bewegung" wurde, das konnte also Thomas Mann am
wenigsten überraschen.
Verwundern mußte es ihn aber, wie sich sein Vaterland nach dem Zweiten
Weltkrieg ihm gegenüber verhalten hat. "Deutschland ist mir in all diesen
Jahren" - schrieb Thomas Mann - "doch recht fremd geworden." Es sei "ein
beängstigendes Land". Das änderte sich nicht, es blieb für ihn ein
beängstigendes Land, denn niemand gab sich Mühe, Thomas Mann von seiner
Furcht zu befreien. Natürlich, es war die Zeit des Kalten Krieges, und
Thomas Mann war zu der von ihm verlangten Pauschalverurteilung der DDR nicht
bereit. Gleichwohl ist es heute unbegreiflich, daß er auf den von ihm
insgeheim erhofften Ruf nach Deutschland vergeblich wartete.
München vor allem, München, das er in seiner Prosa leuchten ließ, München, das
ihn 1933 als "Wagnerverächter" verjagt hatte, München hätte alles Denkbare
tun müssen, um dem bedeutendsten Schriftsteller, der je in dieser Stadt
gelebt hat, die Heimkehr zu ermöglichen. Ob solche Bemühungen erfolgreich
gewesen wären, steht auf einem anderen Blatt. Daß sie aber ganz unterlassen
wurden, ist und bleibt eine Schande, für die es viele Gründe geben mag und
für die es letztlich keine Entschuldigung gibt.
Und hat man sich in Bonn über jenen Gedanken gemacht, der Deutschland in
schwierigster Zeit vor der internationalen Öffentlichkeit repräsentiert hat?
Im April 1948 hat der bayerische Staatssekretär für die Schönen Künste,
Dieter Sattler, Thomas Mann in Pacific Palisades besucht. Unter anderem bat
er Thomas Mann, einen Aufruf an Schriftsteller und Künstler zu initiieren,
der sie zur Rückkehr bewegen sollte. Thomas Mann war für diese Idee
verständlicherweise nicht zu haben, sie schien ihm zumindest verfrüht. Recht
hatte er, denn die westdeutschen Landesregierungen haben in ihrer Mehrheit
einen solchen Aufruf keineswegs befürwortet.
Im Sommer 1949 war Sattler beim Bundeskanzler Adenauer. Er versuchte ihn zu
überzeugen, daß es sich schicke, ja, daß es sich dringend empfehle Thomas
Mann zu bitten, nach Deutschland zu kommen, sich in Deutschland
niederzulassen. Sattler gab auch dem Bundeskanzler zu verstehen, daß eine
solche Einladung und Bitte mit keinem Risiko verbunden wäre. Zwar erwäge
Thomas Mann die Rückkehr nach Europa, doch nicht nach Deutschland. Adenauer
indes war an der Sache nicht im geringsten interessiert, er sprach damals
die denkwürdigen Worte: "Dieser Thomas Mann, der paßt doch besser in die
Soffjetzone."
Dabei ist es geblieben: Deutschland und Thomas Mann haben sich nie versöhnt.
Aber sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum im
zwanzigsten Jahrhundert verstehe, dann antwortete ich, ohne zu zögern:
Deutschland - das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Sie
symbolisieren die beiden Möglichkeiten des Deutschtums.
1963 hatte ich in München einen Vortrag zu halten, der hier in dieser Aula
stattfand. Ich begann mit den Worten: "Zum ersten Mal spreche ich der Stadt,
in der die N.S.D.A.P. gegründet und der "Zauberberg" geschrieben wurde." Der
plötzliche, mich überraschende Beifall des vorwiegend jugendlichen
Auditoriums ließ mich vermuten, daß ich nicht etwa - wie ich meinte - etwas
Banales, sondern offenbar etwas Ungewöhnliches gesagt hatte. Denn es war
damals nicht gerade üblich, in der Aula dieser Universität an die düstere
Vergangenheit zu erinnern.
Und ich müßte auch hier und heute den Blick zu Boden senken, wollte ich Ihnen
und mir eine Erinnerung an das, was mit den Münchener Juden geschehen ist,
ersparen. Nein, ich werde hier mit keiner Statistik aufwarten, mit keinem
Bericht und keiner Zeugenaussage. Ich möchte Ihnen lieber einige Zeilen
vorlesen, die ich 1960 in der "Süddeutschen Zeitung" in einer
Buchbesprechung gefunden habe und die ich nie vergessen konnte.
Sie stammen von einem Schriftsteller, den ich seit einem halben Jahrhundert
bewundere, von Wolfgang Koeppen. Um zu vergegenwärtigen, was geschehen ist,
aber nicht etwa in Auschwitz oder Treblinka, sondern hier, in München -
schrieb Koeppen: "Es ist so, als ob man heute in dieser Zeitung Bilder sehen
würde, von einer gestern auf dem Marienplatz geschehenen Demütigung,
Auspeitschung, Marterung, Ermordung des Münchener Oberbürgermeisters, der
Ratsherren und, sagen wir, aller Papierhändler der Stadt und ihrer Frauen
und Kinder - und die Polizei und jedermann hätte drum herum gestanden, sich
fürs Familienalbum fotografieren lassen und gegrinst. Das war jüdisches
Schicksal."
München hat viel Grund, Wolfgang Koeppen dankbar zu sein. Denn er, der
empfindsame Asphaltliterat aus Berlin, der ein Münchner geworden ist,
freilich ein heimatloser Münchner, ist der Autor des wohl schönsten Romans
über diese Stadt, des Romans "Tauben im Gras". Ich habe, glaube ich, viel
getan, um Koeppen zum Erfolg zu verhelfen. Einiges habe ich auch erreicht,
aber er wird nach wie vor unterschätzt.
Nach München bin ich im Laufe von Jahrzehnten häufig gekommen. Ich kam immer
aus beruflichen Gründen und blieb nie länger als drei oder vier Tage.
Dennoch hatte ich immer das sonderbare Gefühl, daß ich hier im Urlaub bin.
München schien bisweilen ein bayerischer Ferienort, eine Stadt, in der das
Oktoberfest nicht nur im Oktober, sondern das ganze Jahr über begangen wird,
eine Stadt der Festspiele, versteht sich, doch der Festspiele in Permanenz,
eine Stadt, in der die Einheit von Kunst und Bürgerlichkeit, von der Wagner
in den "Meistersingern" träumte, verwirklich ist oder zumindest verwirklicht
scheint. Immer schon hatte ich den Eindruck, daß sich die Festwiese, auf der
Stolzing endlich sein Evchen bekommt, nicht an der Pegnitz befindet, sondern
an der Isar.
Was dem Besucher aus Berlin oder Hamburg hier auffällt, das ist zunächst der
Glanz des Alltags und die Sinnlichkeit. Die erotische Atmosphäre, die gibt
es auch in dieser oder jener deutschen oder österreichischen Stadt. Aber
hier ist sie wohl etwas beschwingter, etwas anmutiger. Man spürt die
Steigerung der Lebenslust, denn man ist in München, glaube ich, dankbarer
als sonstwo für das Geschenk des schönen Augenblicks, für das Geschenk des
Lebens. Man sehnt sich nach dem Genuß, welchem auch immer, und vielleicht
ist diese Sehnsucht das Bemerkenswerteste an der Stadt, die katholisch und
gar nicht protestantisch wirkt, die deutsch und bayerisch und so gar nicht
teutonisch ist.
Ich beobachte die Menschen auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt. Was sind
denn das für Leute, die ich auf der Theatinerstraße sehe oder auf der
Maximilianstraße. Es sind, so will mir scheinen, lauter Schauspieler und
Musiker, sie eilen zu der Oper oder zu den Kammerspielen, zur Probe oder zur
Vorstellung, oder es sind Journalisten auf dem Weg in die Redaktion und
Maler auf dem Weg ins Atelier. Wer flaniert denn da, im Englischen Garten,
im Hofgarten? Vielleicht lauter junge Lyrikerinnen und gescheiterte
Künstler. Und in und vor den Cafés in der Leopoldstraße - wer sitzt denn da?
Sind es nicht etwa Statisten in Erwartung des Regisseurs?
Ach nein, das stimmt ja alles nicht, es ist alles barer Unsinn. Das sind gar
keine Schauspieler, keine Musiker, keine Statisten. Es sind Kellnerinnen und
Verkäuferinnen, es sind Köche und Friseure, es sind Ärzte und Rechtsanwälte
und deren Patienten und Mandanten - es sind ganz einfach Münchener Bürger,
die eifrig und fröhlich mitmachen. Sie alle spielen mit, ohne Gage und mit
viel Vergnügen. Hier ist alles inszeniert. Anders als Berlin oder Hamburg
oder Frankfurt ist München eine theatralische Stadt. Die ganze Welt ist hier
eine Bühne.
Halt, was red' ich denn da, das ist ja Shakespeare: "Die ganze Welt ist eine
Bühne, / Und alle Männer und Frauen sind nur Spieler / Sie treten auf und
gehen wieder ab . . ." Das läßt er den Jacques in "Wie es Euch gefällt"
sagen, im Ardenner Wald. Ob diese Worte vielleicht gar auf Münchnen
abzielen? Wie denn: Shakespeare und München - was soll denn das?
Vor genau dreißig Jahren habe ich in Frankfurt die deutsche Erstaufführung des
Schauspiels "Lear" von Edward Bond gesehen. Nach Ende der Vorstellung traf
ich meinen Freund Hellmuth Karasek. Ich fragte ihn: "Dieses Stück von dem
Bond - das gefällt Ihnen wohl." Er antwortete trotzig: "Jawohl." Ich hatte
Bedenken, die Blendung des Herzogs Gloucester sei doch hier eine ganz
schwache Szene, Shakespeare habe die gleiche Szene viel besser gemacht.
Darauf sagte mein Freund Hellmuth Karasek ein Wort, das ich bis heute nicht
vergessen habe und nie vergessen werde, das bedeutendste Wort, das ich je
aus seinem Munde hörte. Er sagte nämlich: "Shakespeare hat alles besser
gemacht." Das hatte mir die Sprache verschlagen, ich blieb vollkommen stumm
- ganze zehn Sekunden.
So ist es: Er, der größte Unterhaltungsschriftsteller der Welt, er hat
tatsächlich alles besser gemacht. Bei ihm ist alles möglich. Wenn in seinem
"Wintermärchen" Böhmen am Meer liegen kann und "Mass für Mass" in Wien
spielt, warum soll er nicht, als er Jacques im Ardenner Wald von der Welt
als Bühne sprechen ließ - warum soll er da nicht an München gedacht haben?
Beweisen kann ich das nicht. Aber doch weiß ich es genau, was Shakespeare
damals im Sinn hatte - natürlich die Stadt München.
Daß dieser Autor glaubt, gerade jetzt sei der Augenblick gekommen, seinem Haß
freien Lauf zu lassen, das ist das Beunruhigende, das ist das Gefährliche.
Im Jahr 1963 sprach ich zum ersten Male in der Stadt, in der Hitlers Partei
gegründet und Thomas Manns " Zauberberg" geschrieben wurde.
Vielleicht ist die Sehnsucht das Bemerkenswerteste an dieser Stadt München, die
deutsch ist und sehr bayerisch und so gar nicht teutonisch."
hagalil.com / 15-07-2002 |