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"Ich empfinde Verachtung und - Angst":
Marcel Reich-Ranickis Dankesrede

Vergangene Woche wurde Marcel Reich-Ranicki mit der Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München ausgezeichnet. In seiner Dankesrede griff er Martin Walser wegen seines neuen Buchs "Tod eines Kritikers" scharf an und äußerte seine Sorgen um die literarische Zukunft des Landes: 

"In angelsächsischen Ländern wird dringend empfohlen, eine Rede mit einem Scherz zu beginnen. Ich bitte um Entschuldigung, denn ich kann diesen Ratschlag hier und heute nicht befolgen. Mißverstehen Sie mich nicht: Ich habe nicht plötzlich meinen Humor eingebüßt, ich möchte auch niemandem die gute Laune verderben. Aber jubeln und jauchzen kann ich nicht. Und ich kann nicht verheimlichen, was ich in diesen Wochen in dem Land empfinde, dessen Bürger ich bin: Ich empfinde Verachtung und - Angst. Das sind große Worte, ich weiß es. Aber ich kann sie nicht mildern oder gar zurücknehmen.

Ein Autor, der von einem Kritiker mehrfach ungünstig und vielleicht auch gelegentlich boshaft beurteilt wurde, holt zum Gegenschlag aus. Das ist in der Geschichte der Literatur unzählige Male passiert. Ein Grund zur Aufregung ist das nicht. Jeder kennt Goethes Gedicht, das mit den Worten endet: "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent." Damals wurde sofort verstanden, wogegen dieser Aufruf gerichtet war - gegen die Kritik als neuetablierte Institution des literarischen Lebens. Goethe wurde nicht ganz ernst genommen, man hielt ihm seine Jugend zugute.

Auch dem Erzähler vom Bodensee, der freilich keine Ermäßigung für Jugendliche in Anspruch nehmen kann, da er über fünfundsiebzig Jahre alt ist, hätte man ein hartes Wort gegen seinen Kritiker gewiß verziehen. Nur hat er nicht ein freches Gedicht geschrieben, sondern einen ganzen Roman, und dessen Fazit lautet nicht etwa "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent", sondern "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Jude." So lese ich diesen Roman, anders kann ich es nicht.

Was ist so schrecklich an diesem Buch? Einen Autor, der im "Dritten Reich" aufgewachsen ist und, wie er uns selber berichtete, im nationalsozialistischen Geist erzogen wurde, überkommt die Wut: Er kann seine Affekte nicht mehr beherrschen. Das ist zunächst einmal abstoßend.

Daß aber dieser Autor tatsächlich glaubte, jetzt, gerade jetzt sei in der Bundesrepublik Deutschland endlich der Augenblick, seinem Haß freien Lauf zu lassen - das ist das Beunruhigende, das Gefährliche. Mehr noch: Daß manche Journalisten und vereinzelte Germanisten mit dem Mann vom Bodensee gemeinsame Sache machen, daß ein bekannter Münchener Kritiker, den ich zu meinen Freunden zählte, sich nicht entblödet, diesen Roman zu verteidigen und zu loben, daß der Suhrkamp-Verlag, dessen Chef und Mitinhaber, Siegfried Unseld, sich rühmte, in seinem Haus sei "wie an keinem anderen Ort die unvergleichliche Produktivität einer letzten Generation deutsch-jüdischer Gelehrsamkeit" konzentriert, dieses schändliche Buch verlegt hat und an ihm jetzt ein Vermögen verdient - das alles, ich gebe es zu, erfüllt mich mit Trauer und eben auch mit Angst.

Was hat sich geändert? Die oft beschworene Ära der Suhrkamp-Kultur ist abgeschlossen, es wird sie nie wieder geben. Der Ruf dieses Hauses ist in hohem Maße beschädigt, der Verlag ist besudelt. Wir werden uns damit abfinden. Die Publizisten und einige wenige Publikationsorgane, die ebenfalls besudelt dastehen, werden weiterwirken, natürlich. Auch damit werden wir uns abfinden, und es fällt nicht sonderlich ins Gewicht, wenn man bedenkt, daß in den meisten Blättern, vor allem in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in der "Frankfurter Rundschau", im "Spiegel" und in der "Literarischen Welt" ausführliche Artikel erschienen sind, die den Roman aufmerksam analysieren und empört zurückweisen.

Wo also, frage ich noch einmal, ist der Grund zur Angst und zur Trauer? Ganz einfach: Schon sind rund hundertfünfzigtausend Exemplare dieses Buches im Umlauf, eines Romans, der gegen die Juden hetzt, der, hier und da dem Vorbild des "Stürmers" folgend, Ekel hervorrufen möchte. Welche Folgen werden sich daraus ergeben? Ich weiß es nicht, denn ein solcher Roman ist nach 1945 in deutscher Sprache noch nicht veröffentlicht worden. Ich weiß es nicht, ich fürchte mich. Ich bin nun 82 Jahre alt, doch der Autor vom Bodensee kann sich nicht damit abfinden, daß ich noch lebe und arbeite. Er kann sich ja ausrechnen, daß das nicht mehr lange dauern wird. Aber er ist auf grausame Weise ungeduldig.

Und wie viele Nachahmer werden diesem Autor folgen? Schon hat sich ein Trittbrettfahrer zu Worte gemeldet, und es könnten sich noch andere an dem schmutzigen Erfolg beteiligen wollen. Wenn ein solches Buch, das man doch als trübes Symptom verstehen muß, in Deutschland im Jahre 2002 möglich ist - was kann da noch möglich sein? Das frage ich. Und ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich mir erlaubt habe, in dieser festlichen Stunde von jenem dubiosen und düsteren Buch zu sprechen, das vom Ufer des Bodensees kommt und nun in ganz Deutschland verbreitet ist. Diese neue deutsche Mordphantasie hat meine Frau und mich, das darf ich doch sagen, tief getroffen.

Jetzt aber ist höchste Zeit, sich dem Anlaß zuzuwenden, der uns heute hier zusammengeführt hat. Ich danke vom Herzen dem Rektor der Ludwig-Maximilians-Universität München für die hohe Auszeichnung, die mir zuteil wird. Ich danke jenen, die an diesem Beschluß beteiligt waren, ich danke ganz besonders Wolfgang Frühwald für seine schöne, seine nachdenkliche Lobrede.

Doch will ich nicht verheimlichen, daß sich zur Freude über diese hohe Ehre gleich eine gewisse Verlegenheit gesellte. Seine Magnifizenz, der Herr Rektor Heldrich, sagte mir, daß man von mir eine Dankrede erwarte, möglichst vierzig Minuten lang. Ich fragte schüchtern nach dem gewünschten Thema und bekam zu hören, dies sei nun ganz mir überlassen. Sie erwarten vielleicht, bemerkte ich scherzhaft, daß ich das Thema "München leuchtete" wähle. Kaum war mir das Wort entfahren, wollt' ich's im Busen gern bewahren. Doch schon war es zu spät. Denn Magnifizenz sagte rasch, dies sei in der Tat das allerbeste Thema, darüber müsse ich unbedingt sprechen. Da war's um mich geschehn, da steh' ich nun, ich armer Tor - und muß über München reden.

Nun, ich will nicht sagen, ich sei ein extrem wortkarger und schweigsamer Mensch. Aber München kenne ich kaum. Als ich, beinahe noch ein Kind, jene Novelle Thomas Manns las, die mit den berühmten Worten beginnt, übrigens eine seiner schwächsten Geschichten, da habe ich mir die Frage, wer oder was in München leuchtet, noch gar nicht gestellt. Es konnte ja nur, meinte ich, die Sonne sein. Aber das trifft eben nicht zu.

Wie sie in München leuchtet, genauso versieht die Sonne ihren Dienst in Wien oder in Stuttgart. Sie scheint über Gerechte und Ungerechte, sie ist gleichgültig und gnadenlos. Als im Warschauer Getto tagaus, tagein Tausende und Zehntausende in stinkende Viehwaggons gepeitscht wurden, um zu den Gaskammern gebracht zu werden, was tat da die Sonne? Nun ja, sie tönte, wie es ihre Art ist, nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang, sie strahlte vom frühen Morgen bis zum späten Abend - ununterbrochen und unbarmherzig. Nie habe ich an der Weichsel herrlicheres Wetter erlebt. Ich habe damals, so kindisch oder kurios dies auch klingen mag, die Sonne gehaßt.

Und wie war das denn vor genau hundert Jahren, im Juli 1902, als Thomas Manns Novelle "Gladius dei" zum ersten Mal gedruckt wurde? Das habe ich erst erheblich später begriffen, als ich einen zu wenig bekannten Roman Thomas Manns las, den raffiniertesten und prächtigsten Unterhaltungsroman, den ich kenne, den "Erwählten". Das Buch beginnt mit "Glockenschall" und "Glockenschwall" über der ganzen Stadt. Aber wer - fragt der Erzähler - läutet die Glocken? Denn die Glöckner sind an jenem Tag, wie alles Volk, auf die Straße gelaufen, die Glockenstuben sind leer. Wer also läutet die Glocken Roms? Thomas Mann antwortet klar: Es ist der Geist der Erzählung.

Genauso ist es um München in der Novelle "Gladius dei" bestellt. Also: Es stimmt schon, in München lag alles, wie es bei Thomas Mann heißt, "in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages", und es "spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide". Ja, tatsächlich war es anders als in Wien oder in Stuttgart oder sonstwo, aber es war in München anders nur deshalb, weil Thomas Mann es so wollte. München leuchtete, jawohl, doch nur deshalb, weil es dem Geist der Erzählung gefiel, München leuchten zu lassen.

Meine Vorstellung von München wurde erst einmal von der Literatur geprägt. Denn es ging meinen Eltern schlecht, die Bahnreise nach München konnten sie mir nicht spendieren. Aber ich las viel, ich las auch den Münchener Autor Lion Feuchtwanger. Wenn die Rede auf seine Vaterstadt kam, nahm er kein Blatt vor den Mund. Er war ein Schriftsteller mit Witz und Pfiff, nur näherte er sich bisweilen dem Albernen, und hier und da hat ihn sein Geschmack im Stich gelassen. In Bayern jedenfalls hatte man wenig Sinn für Feuchtwangers Humor, und man nahm ihm vor allem sein Hauptwerk übel, den Roman "Erfolg" aus dem Jahre 1930.

Dieses München-Buch spielt in der Geschichte der modernen deutschen Literatur eine immer noch unterschätzte Rolle. Es demonstrierte, seinen Schwächen zum Trotz, neue Möglichkeiten, den Alltag der Großstadt, ihren Rhythmus und ihre Atmosphäre mit den Mitteln der Epik bewußt und spürbar zu machen. Die Modernität hätte man Feuchtwanger schon verziehen, nicht aber den Spott, mit dem er die Bewohner dieser Stadt überschüttete. Neben den vielen scharf verhöhnten Figuren im "Erfolg" gibt es nicht wenige, die Feuchtwanger bewundert und liebevoll behandelt - und auch die sind allesamt Münchener. Die heimliche Liebe des Juden Feuchtwanger zu Bayern fand keine Gegenliebe. Mitte der zwanziger Jahre wurde für ihn die antisemitische Atmosphäre in der Stadt, die sich zum Zentrum des Nationalsozialismus auswuchs, unerträglich, ähnlich wie ein anderer deutsch-jüdischer Schriftsteller von Rang, wie Arnold Zweig, ging auch Feuchtwanger von München nach Berlin.

1933 - er war schon im Exil - hat ihm die Ludwig-Maximilians-Universität seinen Doktorgrad aberkannt. Zu einer Versöhnung zwischen Feuchtwanger und München ist es nie gekommen. Den Doktortitel hat man ihm zwar wieder zuerkannt, aber erst sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Offenbar hat sich die Universität nur einer lästigen Pflicht entledigt, denn er wurde nicht etwa eingeladen, seine Geburtsstadt aus diesem Anlaß zu besuchen, ja, man hat ihn überhaupt nicht informiert: Die neue Urkunde fand Feuchtwanger überraschend in seiner Post.

Vielleicht sollte man diesem Umstand keine sonderliche Bedeutung beimessen, gleichwohl ist er symptomatisch. An den Schriftstellern, die man 1933 verjagt hatte, war man nach 1945 in den westdeutschen Ländern nicht interessiert. Wer nicht in die DDR gehen wollte - wie es Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig und einige andere taten und wie es Heinrich Mann jedenfalls beabsichtigte -, hatte in Deutschland nichts zu suchen. Feuchtwanger blieb in den Vereinigten Staaten, Remarque und Zuckmayer entschieden sich für die Schweiz, Döblin kehrte nach Frankreich zurück.

Und wie war es mit ihm, der in den Jahren der deutschen Schuld und Schande das deutsche Gewissen verkörperte, mit ihm, der Deutschlands Glück in Deutschlands Unglück war, mit ihm, der während des Zweiten Weltkriegs zur weithin sichtbaren Gegenfigur zu Adolf Hitler wurde? Thomas Mann hatte in den Jahren der Weimarer Republik freundliche und anerkennende Worte für München, er rühmte das Münchener Gemüt, aber er wußte auch, daß der Weg vom Gemüt zur Gemütskrankheit bisweilen nur kurz ist. Wenn das deutsche Gemüt nicht vom Verstand kontrolliert wird, dann könne es, Thomas Mann hat es schon 1926 erkannt, eine große Gefahr werden, ja eine "Weltgefahr". Daß München die "Hauptstadt der Bewegung" wurde, das konnte also Thomas Mann am wenigsten überraschen.

Verwundern mußte es ihn aber, wie sich sein Vaterland nach dem Zweiten Weltkrieg ihm gegenüber verhalten hat. "Deutschland ist mir in all diesen Jahren" - schrieb Thomas Mann - "doch recht fremd geworden." Es sei "ein beängstigendes Land". Das änderte sich nicht, es blieb für ihn ein beängstigendes Land, denn niemand gab sich Mühe, Thomas Mann von seiner Furcht zu befreien. Natürlich, es war die Zeit des Kalten Krieges, und Thomas Mann war zu der von ihm verlangten Pauschalverurteilung der DDR nicht bereit. Gleichwohl ist es heute unbegreiflich, daß er auf den von ihm insgeheim erhofften Ruf nach Deutschland vergeblich wartete.

München vor allem, München, das er in seiner Prosa leuchten ließ, München, das ihn 1933 als "Wagnerverächter" verjagt hatte, München hätte alles Denkbare tun müssen, um dem bedeutendsten Schriftsteller, der je in dieser Stadt gelebt hat, die Heimkehr zu ermöglichen. Ob solche Bemühungen erfolgreich gewesen wären, steht auf einem anderen Blatt. Daß sie aber ganz unterlassen wurden, ist und bleibt eine Schande, für die es viele Gründe geben mag und für die es letztlich keine Entschuldigung gibt.

Und hat man sich in Bonn über jenen Gedanken gemacht, der Deutschland in schwierigster Zeit vor der internationalen Öffentlichkeit repräsentiert hat? Im April 1948 hat der bayerische Staatssekretär für die Schönen Künste, Dieter Sattler, Thomas Mann in Pacific Palisades besucht. Unter anderem bat er Thomas Mann, einen Aufruf an Schriftsteller und Künstler zu initiieren, der sie zur Rückkehr bewegen sollte. Thomas Mann war für diese Idee verständlicherweise nicht zu haben, sie schien ihm zumindest verfrüht. Recht hatte er, denn die westdeutschen Landesregierungen haben in ihrer Mehrheit einen solchen Aufruf keineswegs befürwortet.

Im Sommer 1949 war Sattler beim Bundeskanzler Adenauer. Er versuchte ihn zu überzeugen, daß es sich schicke, ja, daß es sich dringend empfehle Thomas Mann zu bitten, nach Deutschland zu kommen, sich in Deutschland niederzulassen. Sattler gab auch dem Bundeskanzler zu verstehen, daß eine solche Einladung und Bitte mit keinem Risiko verbunden wäre. Zwar erwäge Thomas Mann die Rückkehr nach Europa, doch nicht nach Deutschland. Adenauer indes war an der Sache nicht im geringsten interessiert, er sprach damals die denkwürdigen Worte: "Dieser Thomas Mann, der paßt doch besser in die Soffjetzone."

Dabei ist es geblieben: Deutschland und Thomas Mann haben sich nie versöhnt. Aber sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum im zwanzigsten Jahrhundert verstehe, dann antwortete ich, ohne zu zögern: Deutschland - das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Sie symbolisieren die beiden Möglichkeiten des Deutschtums.

1963 hatte ich in München einen Vortrag zu halten, der hier in dieser Aula stattfand. Ich begann mit den Worten: "Zum ersten Mal spreche ich der Stadt, in der die N.S.D.A.P. gegründet und der "Zauberberg" geschrieben wurde." Der plötzliche, mich überraschende Beifall des vorwiegend jugendlichen Auditoriums ließ mich vermuten, daß ich nicht etwa - wie ich meinte - etwas Banales, sondern offenbar etwas Ungewöhnliches gesagt hatte. Denn es war damals nicht gerade üblich, in der Aula dieser Universität an die düstere Vergangenheit zu erinnern.

Und ich müßte auch hier und heute den Blick zu Boden senken, wollte ich Ihnen und mir eine Erinnerung an das, was mit den Münchener Juden geschehen ist, ersparen. Nein, ich werde hier mit keiner Statistik aufwarten, mit keinem Bericht und keiner Zeugenaussage. Ich möchte Ihnen lieber einige Zeilen vorlesen, die ich 1960 in der "Süddeutschen Zeitung" in einer Buchbesprechung gefunden habe und die ich nie vergessen konnte.

Sie stammen von einem Schriftsteller, den ich seit einem halben Jahrhundert bewundere, von Wolfgang Koeppen. Um zu vergegenwärtigen, was geschehen ist, aber nicht etwa in Auschwitz oder Treblinka, sondern hier, in München - schrieb Koeppen: "Es ist so, als ob man heute in dieser Zeitung Bilder sehen würde, von einer gestern auf dem Marienplatz geschehenen Demütigung, Auspeitschung, Marterung, Ermordung des Münchener Oberbürgermeisters, der Ratsherren und, sagen wir, aller Papierhändler der Stadt und ihrer Frauen und Kinder - und die Polizei und jedermann hätte drum herum gestanden, sich fürs Familienalbum fotografieren lassen und gegrinst. Das war jüdisches Schicksal."

München hat viel Grund, Wolfgang Koeppen dankbar zu sein. Denn er, der empfindsame Asphaltliterat aus Berlin, der ein Münchner geworden ist, freilich ein heimatloser Münchner, ist der Autor des wohl schönsten Romans über diese Stadt, des Romans "Tauben im Gras". Ich habe, glaube ich, viel getan, um Koeppen zum Erfolg zu verhelfen. Einiges habe ich auch erreicht, aber er wird nach wie vor unterschätzt.

Nach München bin ich im Laufe von Jahrzehnten häufig gekommen. Ich kam immer aus beruflichen Gründen und blieb nie länger als drei oder vier Tage. Dennoch hatte ich immer das sonderbare Gefühl, daß ich hier im Urlaub bin. München schien bisweilen ein bayerischer Ferienort, eine Stadt, in der das Oktoberfest nicht nur im Oktober, sondern das ganze Jahr über begangen wird, eine Stadt der Festspiele, versteht sich, doch der Festspiele in Permanenz, eine Stadt, in der die Einheit von Kunst und Bürgerlichkeit, von der Wagner in den "Meistersingern" träumte, verwirklich ist oder zumindest verwirklicht scheint. Immer schon hatte ich den Eindruck, daß sich die Festwiese, auf der Stolzing endlich sein Evchen bekommt, nicht an der Pegnitz befindet, sondern an der Isar.

Was dem Besucher aus Berlin oder Hamburg hier auffällt, das ist zunächst der Glanz des Alltags und die Sinnlichkeit. Die erotische Atmosphäre, die gibt es auch in dieser oder jener deutschen oder österreichischen Stadt. Aber hier ist sie wohl etwas beschwingter, etwas anmutiger. Man spürt die Steigerung der Lebenslust, denn man ist in München, glaube ich, dankbarer als sonstwo für das Geschenk des schönen Augenblicks, für das Geschenk des Lebens. Man sehnt sich nach dem Genuß, welchem auch immer, und vielleicht ist diese Sehnsucht das Bemerkenswerteste an der Stadt, die katholisch und gar nicht protestantisch wirkt, die deutsch und bayerisch und so gar nicht teutonisch ist.

Ich beobachte die Menschen auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt. Was sind denn das für Leute, die ich auf der Theatinerstraße sehe oder auf der Maximilianstraße. Es sind, so will mir scheinen, lauter Schauspieler und Musiker, sie eilen zu der Oper oder zu den Kammerspielen, zur Probe oder zur Vorstellung, oder es sind Journalisten auf dem Weg in die Redaktion und Maler auf dem Weg ins Atelier. Wer flaniert denn da, im Englischen Garten, im Hofgarten? Vielleicht lauter junge Lyrikerinnen und gescheiterte Künstler. Und in und vor den Cafés in der Leopoldstraße - wer sitzt denn da? Sind es nicht etwa Statisten in Erwartung des Regisseurs?

Ach nein, das stimmt ja alles nicht, es ist alles barer Unsinn. Das sind gar keine Schauspieler, keine Musiker, keine Statisten. Es sind Kellnerinnen und Verkäuferinnen, es sind Köche und Friseure, es sind Ärzte und Rechtsanwälte und deren Patienten und Mandanten - es sind ganz einfach Münchener Bürger, die eifrig und fröhlich mitmachen. Sie alle spielen mit, ohne Gage und mit viel Vergnügen. Hier ist alles inszeniert. Anders als Berlin oder Hamburg oder Frankfurt ist München eine theatralische Stadt. Die ganze Welt ist hier eine Bühne.

Halt, was red' ich denn da, das ist ja Shakespeare: "Die ganze Welt ist eine Bühne, / Und alle Männer und Frauen sind nur Spieler / Sie treten auf und gehen wieder ab . . ." Das läßt er den Jacques in "Wie es Euch gefällt" sagen, im Ardenner Wald. Ob diese Worte vielleicht gar auf Münchnen abzielen? Wie denn: Shakespeare und München - was soll denn das?

Vor genau dreißig Jahren habe ich in Frankfurt die deutsche Erstaufführung des Schauspiels "Lear" von Edward Bond gesehen. Nach Ende der Vorstellung traf ich meinen Freund Hellmuth Karasek. Ich fragte ihn: "Dieses Stück von dem Bond - das gefällt Ihnen wohl." Er antwortete trotzig: "Jawohl." Ich hatte Bedenken, die Blendung des Herzogs Gloucester sei doch hier eine ganz schwache Szene, Shakespeare habe die gleiche Szene viel besser gemacht. Darauf sagte mein Freund Hellmuth Karasek ein Wort, das ich bis heute nicht vergessen habe und nie vergessen werde, das bedeutendste Wort, das ich je aus seinem Munde hörte. Er sagte nämlich: "Shakespeare hat alles besser gemacht." Das hatte mir die Sprache verschlagen, ich blieb vollkommen stumm - ganze zehn Sekunden.

So ist es: Er, der größte Unterhaltungsschriftsteller der Welt, er hat tatsächlich alles besser gemacht. Bei ihm ist alles möglich. Wenn in seinem "Wintermärchen" Böhmen am Meer liegen kann und "Mass für Mass" in Wien spielt, warum soll er nicht, als er Jacques im Ardenner Wald von der Welt als Bühne sprechen ließ - warum soll er da nicht an München gedacht haben? Beweisen kann ich das nicht. Aber doch weiß ich es genau, was Shakespeare damals im Sinn hatte - natürlich die Stadt München.

Daß dieser Autor glaubt, gerade jetzt sei der Augenblick gekommen, seinem Haß freien Lauf zu lassen, das ist das Beunruhigende, das ist das Gefährliche.

Im Jahr 1963 sprach ich zum ersten Male in der Stadt, in der Hitlers Partei gegründet und Thomas Manns " Zauberberg" geschrieben wurde.

Vielleicht ist die Sehnsucht das Bemerkenswerteste an dieser Stadt München, die deutsch ist und sehr bayerisch und so gar nicht teutonisch."

 hagalil.com / 15-07-2002

 


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