Wochenabschnitt Vajigasch:
Frauen
Von Marianne Wallach-Faller
Wir haben zusammen aus dem
Wochenabschnitt die Kapitel 45 und 46 aus dem ersten Buch Mose
gehört. Ich möchte nun diese beiden Kapitel "feministisch lesen".
Was uns bei dieser Lektüre der sehr schönen und rührenden
Josefsgeschichte auffällt, ist dass Frauen darin zwar nicht völlig
fehlen, dass sie aber nicht an der Handlung beteiligt sind.
So finden wir Frauen wiederholt
kollektiv als Frauen der Brüder Josefs erwähnt (45. 19; 46. 5, 26),
wobei sie erst nach den Kindern genannt werden! Namentlich werden
Jakobs Tocher Dina (46. 7, 15), in seinem Stammbaum seine Frauen
Rachel, Lea, Bilha und Silpa (46.15), Aschers Tochter Serach (46.
17) und Josefs Frau Assnat (46. 20) genannt. Die Frauen sind, wie es
die jüdische feministische Theologin Judith Plaskow in ihrem Buch
"Und wieder stehen wir am Sinai" formuliert, "nicht abwesend, aber
sie sind bloß Mitwirkende in Geschichten, die von Männern erzählt
werden [...] Auch wenn Frauen im Mittelpunkt einer Handlung stehen,
geht es in den Handlungen nicht um sie." Es geht nun darum, dieses
Schweigen der Frauen in den biblischen Texten wahrzunehmen im
Bewusstsein, dass die Hälfte der Juden stets Frauen waren, aber "die
Stimmen und Erfahrungen der Frauen in den Aufzeichnungen von
jüdischem Glauben und Erfahren, wie sie auf uns gekommen sind,
weitgehend unsichtbar sind. Frauen haben jüdische Geschichte gelebt
und ihre Last getragen, aber die Wahrnehmungen und Fragen der Frauen
haben der Schrift nicht Gestalt gegeben."
Ich möchte nun einige Texte von
Judith Plaskow zitieren, in denen sie theoretische Überlegungen
anstellt, wie jüdische Feministinnen mit dem androzentrischen, also
männerbezogenen, Text der Tora sowie mit dem Schweigen der Frauen
darin umgehen können. Judith Plaskow schreibt über ihre Art des
Umgangs mit der Hebräischen Bibel, über ihre Hermeneutik: "Wenn ich
den tiefverwurzelten Sexismus der jüdischen Tradition diskutiere,
verwende ich den 'Tenach' (die Hebräische Bibel), um das Schweigen
der Frauen in jüdischen Schriften aufzuzeigen. Dabei setze ich eine
zweifache, paradoxe Beziehung zum biblischen Text voraus. Ich gehe
davon aus, dass ich der Bibel gegenüber eine kritische Freiheit
habe; aber ebenso sicher ist mir meine Verbundenheit mit der Bibel,
und dass sie es wert ist, dass ihre Standpunkte und Anliegen befragt
werden. Ich bezeichne die Bibel als patriarchal, aber indem ich mir
die Zeit nehme, sie zu erforschen, erhebe ich den Anspruch, dass sie
mich als Text etwas angeht. Diese doppelte Beziehung ist nicht
gedankenlos. Sie wurzelt in meinem Glauben, dass die jüdische
Feministin mit gleicher Leidenschaft gleichzeitig (zumindest) zwei
unterschiedliche Haltungen jüdischen Quellen gegenüber einnehmen
muss. Diese sind bei Elisabeth Schüssler Fiorenza beschrieben, die
bei der Entwicklung feministischer Interpretationsprinzipien für das
Studium des Neuen Testamentes zwischen einer 'Hermeneutik des
Verdachts' und einer 'Hermeneutik des Erinnerns' unterscheidet, die
beide einer feministischen Aneignung religiöser Texte zugrunde
liegen müssen. Eine Hermeneutik des Verdachts 'geht von der Annahme
aus, dass die biblischen Texte und ihre Interpretation
androzentrisch bestimmt sind und patriarchale Funktionen haben
können.'"
"Auch wenn jüdische Quellen mit
Misstrauen betrachtet werden müssen – es sind doch die einzigen
Quellen, die wir haben. Wenn Verdacht die eine Seite der Beziehung
der Feministinnen zur Tradition ist, dann ist die andere Seite das
Erinnern. Jüdische Quellen haben uns im Guten wie im Schlechten
geprägt, und sie bleiben unser stärkstes Bindeglied zur jüdischen
geschichtlichen Erfahrung. [...] Eine 'Hermeneutik des Erinnerns'
beharrt darauf, dass dieselben Quellen, die mit Misstrauen zu
betrachten sind, auch für die Rekonstruktion der Geschichte der
jüdischen Frauen verwendet werden können. [...] Wenn traditionelle
Quellen mit neuen Fragen und kritischer Freiheit gelesen werden,
können sie 'gefährliche Erinnerungen' vergangener Befreiungskämpfe
innerhalb und gegen das Patriarchat hergeben, Erinnerungen, die
heutige Frauen mit einer transformativen Geschichte verbindet."
Judith Plaskow verlangt: "Wir
jüdischen Feministinnen müssen die Tora als unser Eigentum
zurückfordern. Wir müssen die Präsenz, Erfahrung und Taten von
Frauen, die in den überlieferten Quellen ausgelöscht sind, sichtbar
machen. Wir müssen die Geschichte der Begegnungen der Frauen mit
Gott erzählen und das Gewebe ihrer religiösen Erfahrung aufgreifen.
Wir müssen die Vorstellung von Tora so erweitern, dass sie nicht nur
die fünf Bücher Mose und traditionelles jüdisches Lernen umfasst,
sondern auch Worte, Lehren und Handeln von Frauen, die bisher
unsichtbar blieben. Um die Tora zu erweitern, müssen wir die
jüdische Geschichte rekonstruieren, um die Geschichte der Frauen
miteinzuschließen und so die Gestalt des jüdischen Gedächtnisses zu
verändern."
Judith Plaskow sucht nun bei den
Rabbinen – befragt also die jüdische Tradition – nach einem Modell,
wie jüdische Feministinnen die jüdische Geschichte rekonstruieren
können. Sie schreibt über die Methode der Rabbinen: "Wegen der
kontinuierlichen Macht der Vergangenheit in der Gegenwart
rekonstruierten die Rabbinen, als sie nach der Zerstörung des
Zweiten Tempels das jüdische religiöse Leben tiefgreifend
veränderten, auch die jüdische Erinnerung, um sich selbst in einer
Kontinuität mit der Vergangenheit zu sehen. Die jüdische Gegenwart
ist so tief in der jüdischen Geschichte verwurzelt, dass die in der
jüdischen Realität bewirkten Veränderungen jeweils auch in die
Vergangenheit zurückgelesen wurden, so dass sie als Grundlage für
die Gegenwart aus der Vergangenheit herausgelesen werden konnten.
Immer wieder finden wir in rabbinischen Interpretationen
zeitgenössische Praxis in frühere Epochen zurückprojiziert, so dass
die Traditionskette intakt bleiben kann."
Judith Plaskow folgert daraus: "Aus
all dem ergibt sich eine wichtige Erkenntnis für jüdische
Feministinnen. Auch wir können das Judentum in der Gegenwart nicht
neu definieren, ohne unsere Vergangenheit neu zu definieren, denn
unsere Gegenwart wächst aus unserer Geschichte. Das jüdische
Bedürfnis, die Vergangenheit im Licht der Gegenwart zu
rekonstruieren, trifft sich mit dem Bedürfnis der Feministinnen,
innerhalb des Judentums die Geschichte der Frauen wiederzufinden. Im
Wissen darum, dass Frauen aktive Mitglieder der jüdischen
Gemeinschaft der Gegenwart sind, obwohl große Teile der Gemeinschaft
weiterhin sich selbst in männlichen Begriffen definieren und Frauen
unsichtbar machen, wissen wir, dass wir immer ein Teil der
Gemeinschaft waren – nicht einfach als Objekte männlicher Absichten,
sondern als Subjekte und Gestalterinnen der Tradition."
"Es ist deshalb Zeit, unsere
Geschichte als die Geschichte von Frauen und Männern wieder zu
finden, eine Aufgabe, die sowohl uns Frauen unsere eigene Geschichte
wiederherstellen wird, als auch der jüdischen Gemeinschaft als
Ganzes eine vollständigere jüdische Geschichte zugänglich machen
wird."
"Jüdische Feministinnen sind
bereits in eine neue Beziehung zur Geschichte getreten, die nicht
einfach auf der Gechichtsschreibung basiert, sondern auch auf mehr
traditionellen Strategien des jüdischen Erinnerns. Die rabbinische
Rekonstruktion der jüdischen Geschichte war schließlich nicht
Geschichtsschreibung, sondern Midrasch. Von der unendlichen
Bedeutungsfülle biblischer Texte ausgehend, nahmen die Rabbinen
Texte, die unklar oder störend waren, und schrieben deren
Fortsetzung. Sie trugen ihre eigenen Fragen an die Bibel heran und
fanden Antworten, welche die ewige Bedeutung der biblischen Wahrheit
aufwiesen."
Ich möchte Euch nun ein Beispiel
dafür geben, wie die Rabbinen Lücken, die sie im Text wahrnehmen,
mit Midraschim füllen. Dabei wähle ich natürlich einen Midrasch, der
sich mit einer Frau beschäftigt, da den Rabbinen auch schon das
Schweigen der Frauen in unserem Text aufgefallen war. Ihr werdet
sehen, auf welche Art die Rabbinen Frauen sichtbar machen –
wahrscheinlich nicht ganz so, wie wir es tun würden!
So beflügelt offenbar die nur
einmalige Erwähnung von Aschers Tochter Serach in 1. Mose 46. 17 die
Phantasie der Rabbinen. Sie lassen deshalb Serach in einem Midrasch
zu 1. Mose 45. 26 eine wichtige Rolle spielen. An dieser Stelle
erzählt die Tora, wie die Brüder Josefs ihrem Vater Jakob berichten,
dass Josef noch lebt, und wie er ihnen nicht glaubt. Der Midrasch
ergänzt nun, dass die Brüder bereits an der Grenze zu Kanaan
befürchteten, Jakob werde ihnen nicht glauben. Als sie nun in die
Nähe der Zelte Jakobs kamen, sahen sie Serach, die Tochter Aschers,
eine sehr schöne junge Frau, sehr weise, die eine begabte
Harfenspielerin war. Sie riefen sie zu sich und gaben ihr eine
Harfe, und sie baten sie, vor Jakob zu spielen und ihm zu singen,
was sie ihr sagen würden. Serach setzte sich nun vor Jakob hin, und
mit einer angenehmen Melodie sang sie die folgenden Worte, indem sie
sich mit der Harfe begleitete: "Josef, mein Onkel lebt, er regiert
über ganz Ägypten, er ist nicht tot!" Sie wiederholte diese Worte
mehrere Male, und Jakob wurde immer freudiger erregt. Seine Freude
weckte den heiligen Geist in ihm, und er wusste, dass sie die
Wahrheit sagte. Der Geist der Prophetie kommt nie zu einem Seher
oder einer Seherin, der oder die in einem Zustand von Mattigkeit
oder Kummer ist; er kommt nur zusammen mit Freude. Während all der
Jahre von Josefs Trennung von ihm hatte Jakob keine prophetischen
Visionen, weil er immer traurig war, und erst als Serachs Worte das
Gefühl von Glück wieder in seinem Herz erweckten, ergriff der Geist
der Prophetie wieder Besitz von ihm. (Dies ist die Erklärung für
Jakobs Vision in 1. Mose 46. 2-4.) Jakob belohnte Serach deshalb mit
den Worten: "Meine Tochter, möge der Tod nie Macht über dich haben,
denn du hast meinen Geist wiederbelebt." Und so geschah es. Serach
starb nicht, sie ging lebend ins Paradies ein. Auf seine Bitte
wiederholte sie die Worte, die sie gesungen hatte, immer und immer
wieder, und sie gaben Jakob große Freude und Entzücken, so dass der
heilige Geist stärker und stärker in ihm zunahm.
Das (angebliche) Grab Serachs wird
übrigens in Isfahan im Iran von den persischen Juden sehr verehrt
und ist eine beliebte Wallfahrtsstätte. Eine Inschrift an diesem
Grab stammt aus dem Jahr 1133. Serach ist nicht die einzige, deren
Grab verehrt wurde oder wird. So werden heute noch die Gräber der
Stammmütter Sara, Riwka und Lea zusammen mit denen der Stammväter in
Hebron verehrt, ebenso das Grab Rachels auf dem Weg nach Bethlehem.
Früher wurde auch das Grab Mirjams verehrt (der Kirchenvater
Hieronymus berichtet noch davon).
Soweit also ein Beispiel dafür, wie
die Rabbinen das Schweigen einer Frau in unserem Wochenabschnitt
wahrgenommen haben und ihr eine Stimme gegeben haben. An uns ist es
nun, den biblischen Frauen ihre Stimme aus unserer Frauenperspektive
wiederzugeben. Für andere biblische Frauen als Serach ist dies
bereits geschehen. So gibt es Frauen-Midraschim über Sara, über
Dina, über Esther und Waschti – und natürlich Judith Plaskows
berühmten Midrasch über Eva und Lilith. Auf diese Weise können wir
mit Hilfe von Midraschim die jüdische Erinnerung aus unserer
heutigen Frauenperspektive heraus neu prägen.
Aus:
Frau im Tallit,
S. Judentum feministisch gelesen,hg. v. Doris Brodbeck und Yvonne
Domhardt, Zürich 2000, S. 217-221.
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02-01-04 |