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What do they say about us - Was sagen sie über uns ?

von Iris Noah

In den englischsprachigen Ländern gibt es im Bereich der "Ethnic Studies" seit einigen Jahren Diskussionen zur Fragestellung: "What do they tell about us"? Gemeint ist damit, was Angehörige der Mehrheitskultur ("they") über Minderheiten ("us") sprechen: Was wird wie erzählt, was wird verschwiegen, verdrängt und ausgeblendet. Welche Bilder und Stereotypen über Minderheiten werden weitergegeben? Welche Machtverhältnisse spiegeln sich in den Darstellungsweisen? In Deutschland ist diese Debatte über ihre Anfänge noch nicht hinausgekommen (Bilder von Schwarzen). HaGalil online wird dieser Fragestellung in einer Serie nachgehen, wobei es naheliegenderweise um die Darstellung von Juden, jüdischem Leben und jüdischen Traditionen gehen wird. Angehörige anderer Minderheitsgruppen können sich gerne an diesem Diskurs beteiligen und uns Beiträge schicken.

Teil 3:
Judensonntag - Tag der Judenmission - Israelsonntag
Ein Besuch in der evangelischen Kirche Alt-Tegel im August 2003

"Den Israelsonntag gibt es in protestantischen Kirchen schon seit dem 16.Jahrhundert - freilich mit einer ausgesprochen schwierigen Geschichte, wie mich die "Kirche - evangelische Wochenzeitung für Berlin-Brandenburg"* informiert. Er bezieht sich auf den 9. Aw, an dem Juden der beiden Zerstörungen des Jerusalmer Tempels gedenken, allerdings "im Gegensatz zu heute, weniger im Verständnis als vielmehr in der Konfrontation mit der jüdischen Glaubensrichtung. Die Zerstörung Jerusalems wurde ausschließlich als Strafe und göttliches Gericht dafür verstanden, dass die Mehrheit der Juden in Jesus nicht den Messias erkannt habe". Luther nahm dies gern als abschreckendes Beispiel um zu zeigen, "was auch deutschen Fürstentümern blühen könnte, wenn sie falsche Glaubensentscheidungen treffen". Im 19.Jahrhundert wurde dann dieser Sonntag zum "Tag der Judenmission". In den letzten drei Jahrzehnten wurden sich die Kirchen dieser judenfeindlichen Prägungen bewusst. Heute soll dieser Tag der "Besinnung auf die jüdischen Wurzeln" sowie der "Beziehung zwischen Juden und Christen" dienen. Es gibt kein anderes Thema zu dem die EKD (evangelische Kirche in Deutschland) drei Grundsatzerklärungen verabschiedet hat.

Wie wirken sich diese Erklärungen auf die kirchliche Basis aus? Ich will einen ganz normalen evangelischen Gemeindegottesdienst besuchen - keine Gemeinde, deren Pfarrer für sein Engagement im christlich-jüdischen Dialog bekannt ist. Meine Wahl fällt auf die evangelische Kirchengemeinde Alt-Tegel im Bezirk Reinickendorf in Berlin. Ich suche mir diese Kirche aus, denn zwei Straßen weiter in ca. 400 Meter Entfernung befand sich bis 1. Juli 2003 das koschere Lebensmittelgeschäft "Israel Deli" von Herrn T., das wegen fortgesetzter antisemitischer Übergriffe schließen musste.

In einem freundlichen warmen Raum haben sich knapp 40 Menschen zusammengefunden. Der Pfarrer wird mir später erzählen, dass er 69 Jahre alt ist, in Reinickendorf wohnt und seine Frau 14mal in Israel war. Zu Beginn ertönt das Lied "du höchstes Licht du ewiger Schein" (Nummer 441 im Evangelischen Kirchengesangbuch Strophe 1 - 5). Es stammt aus dem Jahr 1545 aus der Tradition der böhmischen Brüder. In Strophe zwei und drei heißt es:

"Das ist der Herre Jesus Christ, der ja die göttlich Wahrheit ist, mit seiner Lehr hell scheint und leucht, bis er die Herzen zu sich zeucht. Er ist das Licht der ganzen Welt, das jedem klar vor Augen stellt, den hellen schönen, lichten Tag, an dem er selig werden mag".

Ich bin gespannt, ob dieses Lied kommentiert wird oder sein historischer Bezug zum heutigen Sonntag deutlich gemacht wird. Pfarrer B. setzt sofort mit einem Schuldbekenntnis ein. Da ist von der Selbstüberheblichkeit der Kirche die Rede, dass sie sich an die Stelle des jüdischen Volkes gesetzt habe. Umkehr, Liebe und Achtung mögen das Verhältnis prägen. Den Abschluss bildet die Bitte: "Segne alle Anfänge neuen Verstehens".

Dann wird ein Text aus dem Römerbrief Kapitel 11 gelesen. Da ist von einem Geheimnis die Rede, nämlich der Blindheit, die auf einem großen Teil des jüdischen Volkes liegt bis ein großer Teil der Heiden sich bekehrt haben werde. Ganz Israel wird erlöst werden, wie da geschrieben steht "Es wird kommen aus Zion der da erlöse und abwende das gottlose Wesen von Jakob" ...

Zwischendurch werden von Lied 146 die Strophen eins und drei gesungen. Da heißt es:

"Ach Herr Gott, durch die Treue dein, mit Trost und Rettung uns erschein. Beweis an uns dein große Gnad und straf uns nicht auf frischer Tat, wohn uns mit deiner Güte bei, dein Zorn und Grimm fern von uns sei".

In Strophe vier, die nicht mehr gesungen wird, geht es weiter:

"Gedenk an deines Sohnes Tod, sieh an sein heilig Wunden rot. Die sind ja für die ganze Welt, die Zahlung und das Lösegeld. Des trösten wir uns allezeit und hoffen auf Barmherzigkeit".

Der Predigttext aus dem Evangelium von Lukas im 19.Kapitel wird vorgelesen:
"Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist" (Textauszug).

In der Predigt werden folgende Grundgedanken vertieft: Jesus weinte, denn er sah das Schicksal der Stadt Jerusalem voraus. Auch in unseren Tagen wird viel geweint in Jerusalem, denken wir an das Omnibusattentat am letzten Dienstag. Eine christliche Gemeinschaft hat israelische Soldaten eingeladen, um ihnen zu ermöglichen von ihren traumatischen Erfahrungen Abstand zu gewinnen.
Von Jesus wird an drei Stellen erzählt, daß er weint: am Grab seines Freundes Lazarus, im Garten Gethsemane vor seinem Sterben und um Jerusalem. Es ist ein Weinen wie bei einer Totenklage. Titus hatte nach dem Aufstand des jüdischen Volkes gegen die Römer die Stadt Jerusalem und den Tempel dem Erdboden gleichgemacht. Kein Volk musste so viele Kriege und soviel Verfolgung erleiden wie das jüdische.
Jesus trauerte um das jüdische Volk, das nicht die Zeit erkannt hat, in der Gott es besuchen wollte. Auch Paulus bezieht sich im Galaterbrief darauf ("als die Zeit gekommen war").

Dies illustriert der Prediger mit drei Beispielen. Wenn man einen Zug verpasst, kommt man nicht rechtzeitig an den Ort, zu dem man will. Wenn man zum Arzt geht und der sagt: Wenn Sie nur früher gekommen wären, dann ist man zu spät dran. Und so ist es auch, wenn man den verpasst, der Frieden ins Leben bringen will - wie bei den 10 Jungfrauen, von denen einige nicht bereit sind als die Hochzeit stattfinden soll (Gleichnis im Neuen Testament). Das ist mit dem Spruch gemeint, der durch Gorbatschow bekannt wurde: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben".

In unserem Text ist später davon die Rede, daß Jesus sagt: "Mein Haus ist ein Haus des Gebets, doch ihr habt es zu einer Räuberhöhle gemacht". Eine Räuberhöhle ist ein Ort, an dem sich die Räuber sicher fühlen; die, die Gott die Ehre geraubt haben. Sie fühlten sich sicher durch ihre Opfer, aber es war eine falsche Sicherheit... Jesus hat täglich im Tempel gelehrt. Eine große Menschenmenge hörte ihm zu. Die Schriftgelehrten suchten nach Wegen, wie sie ihn umbringen können, ihn, von dem der Epheserbrief sagt "er ist unser Friede".

"Was wird aus Israel? Am Ende der Zeit wird Israel den Messias erkennen, wenn er wiederkommt. In Israel gibt es messianische Gemeinden. Das sind jüdische Gemeinden, die im jüdischen Kultus bleiben, aber Jesus als Messias anerkennen. Sie sind hoffnungsvolle Zeichen einer kommenden Ernte, die zur Erfüllung kommt, wenn Jesus wiederkommt. Darauf dürfen wir uns freuen"

Jetzt ist die Gemeinde mit Singen dran. Lied 241 Strophe 6:

"Ach laß dein Wort recht schnelle laufen, es sei kein Ort ohn dessen Glanz und Schein. Ach führe bald dadurch mit Haufen der Heiden Füll zu allen Toren ein. Ja wecke dein Volk Israel bald auf, und also segne deines Wortes Lauf".

Nun wird die Kollekte eingesammelt. Sie ist für das Institut für Kirche und Judentum und den Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. "Das Institut für Kirche und Judentum veranstaltet alle zwei Jahre eine christliche Sommeruniversität zu der 12 christliche Professoren und Dozenten kommen: Juden sind auch dabei" erfahren die Zuhörenden.

Es darf bezweifelt werden, daß die Gemeindemitglieder bei dieser Erklärung begreifen, dass es sich um eine christlich-jüdische Sommeruniversität handelt, bei der Aspekte eines Rahmenthemas von christlichen und jüdischen Lehrenden behandelt wird. Es hört sich eher so an, als ob Juden, die dabei sind, Adressaten christlicher Rede sind.

Während das Geld eingesammelt wird, werden einige Strophen von "der Tag ist seiner Höhe nah" gesungen, das 1938 von Jochen Klepper verfasst wurde. Er war mit einer Jüdin verheiratet. Vor der Deportation seiner Stieftochter beging die Familie Selbstmord.

Im abschließenden Gebet formuliert der Pfarrer: "Wir gedenken heute aller Opfer des Judenhasses in Israel und in vielen Ländern".
Herr T. und sein koscheres Lebensmittelgeschäft, auch Opfer des Judenhasses und mangelnder Solidarität, nur 400 Meter entfernt, werden nicht erwähnt.

Nach dem Schlusslied "verleih uns Frieden gnädiglich" verlassen die Gottesdienstbesucher die Kirche. Draußen wird der Pfarrer von einer Frau scharf zurechtgewiesen, weil die Belange der Palästinenser in seiner Predigt nicht vorgekommen seien. Kein Wort mehr werde sie mit ihm reden. Sein Gesprächsangebot prallt ab.

Eine Handvoll Gottesdienstbesucher bleibt noch zu einem kurzen Gespräch mit dem Pfarrer stehen. Die Situation in Israel steht nun im Mittelpunkt. Die Rede ist davon, dass das nichts mehr mit "Aug um Auge, Zahn um Zahn" zu tun hat, wenn israelisches Militär Häuser von Palästinensern einreißt. "Das geht weit darüber hinaus". Davon dass dieses Rechtsprinzip den Schadensersatz regelt und die Zuschreibung, es ginge hier um Rache und Vergeltung eine Fehlinterpretation ist, hat außer dem Pfarrer noch niemand etwas gehört, und dem fiel es auch erst ein, als ich meine Verwunderung ausdrückte, wie dieser Satz nach wie vor in der Tradition christlich-antijudaistischer Auslegung Eingang in das Gespräch fand.

Zum Schluss - alle anderen sind gegangen - will ich nun von ihm wissen, ob die evangelische Kirche nun für oder gegen Judenmission sei. Der Predigt und der Liedauswahl sei das nicht zu entnehmen gewesen. Er antwortet mir: "Judenmission ist generell abzulehnen. Wenn Leute von außen kommen ist das abzulehnen zum Beispiel aus Amerika. Juden sollen andere Juden zu Jesus führen". Und er nennt mir als Vorbild dafür das beispielhafte Wirken von Ludwig Schneider, dem Herausgeber der Nachrichten aus Israel sowie die Aktivitäten der Internationalen Christlichen Botschaft in Jerusalem.

Auch das passt nicht zusammen, denn die in der Internationalen Christlichen Botschaft engagierten Leute sind Christen aus unterschiedlichen Ländern und Ludwig Schneider hat eine Freundin von mir vor 30 Jahren in Berlin kennengelernt als er sich als Mitglied einer evangelischen Kirchengemeinde in Berlin-Wilmersdorf vorgestellt hat.

Ich nehme mir noch Zeit und gehe in die Brunowstraße. Die meisten Klebebuchstaben und Davidsterne an der Schaufensterscheibe des ehemaligen "Israel Deli" sind inzwischen entfernt, nur noch von "Lebensmittel" sind einige übrig geblieben. Wenn man genau hinschaut, sieht man noch die Ränder, die die nicht mehr sichtbaren Buchstaben hinterlassen haben.

Der Zeitungsladen um die Ecke ist geöffnet. Ich schaue mich bei den Zeitungen um und nehme ein "Berliner Wochenblatt - Lokalzeitung für Reinickendorf" mit. "Gotteshaus zu verkaufen" heißt die Überschrift. Als ich frage, an wen ich mich wenden muss, wenn ich den leeren Laden um die Ecke neben dem Weinladen (das ehemalige Israel Deli, aber das sage ich nicht) mieten will, wird der Gesichtsausdruck der Frau hinter der Theke hart und sie, die vorher angeregt mit einer anderen Kundin geplaudert hatte, wird einsilbig.

An der Grundschule vorbei gehe ich zur Hauptstraße zurück, wo einige Cafés, Restaurants und Imbissbuden schon geöffnet sind. Überall liegt die Stadtteilzeitung "Lust auf Tegel" von den in der Tegel-AG-City zusammengeschlossenen Geschäftsleuten. Auch der Zeitungsladen und der Weinhändler gehören dazu.

Zum Weiterlesen:
Teil 1:
"gehen & sehen" ein Stadtrundgang
Teil 2:
Bei den Pflanzen der Bibel im botanischen Garten
Teil 4:
Israelsonntag: Jesus weint über Jerusalem
Teil 5: Im Kino - Rosenstrasse

Teil 6: Black Atlantic -  Schwarze in Deutschland

Israel Deli
 - warum ein koscheres Lebensmittelgeschäft schließen mußte

Juden für Judentum gegen Judenmission

*Ausgabe vom 14. August 2003, S.4

hagalil.com 26-08-03


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