What do they tell... Andere Stimmen in
Tegel:
Jesus weint über Jerusalem
(Lukas 19,41f)
Predigt am 24.8.2003 (Israelsonntag) von
Pfarrerin Andrea Richter
Liebe Brüder und Schwestern!
Es ist zum Weinen. Den kleinen jüdischen Lebensmittelladen in Tegel
gibt es nicht mehr.
Im Mai 2002 hatte Herr T. sein koscheres Geschäft in Tegel
eröffnet. Die Leute kamen gern in seinen Laden mit Imbiss. Neben
alter Stammkundschaft des früheren "Tante-Emma-Ladens" kamen
jüdische Berliner aus der ganzen Stadt, türkische Muslime, Christen,
später entdeckten auch Öko-Bewusste das Geschäft für sich."
Nach einigen Wochen kamen dann Angehörige der Neonazi-Szene aus dem
Berliner Umland, pöbelten, "Judensau" gehörte noch zu ihren
harmloseren Ausdrücken. Ab dieser Zeit war es nicht mehr möglich,
den Laden so früh zu öffnen, und das Frühstück für Frühaufsteher im
hinteren Teil des Ladens vorzubereiten.
Einige Zeit später begannen arabisch sprechende Leute die Gäste zu
beschimpfen, ins Essen zu spucken und auf die Fensterscheibe, oder
verschmutzten sie nachts durch Urin. Die israelische Flagge wurde
abgebrochen. Man bedeutete Herrn T., er solle verschwinden. Während
des Besuchs des israelischen Staatspräsidenten Moshe Kazav wurde die
Scheibe des Geschäfts eingeschmissen, Autoreifen vor der Türe
zerstochen. Die Medien stellten einen Zusammenhang mit dem
Nahostkonflikt her.
Nach und nach bröckelte die Stammkundschaft ab. Hausbewohner
äußerten Ängste, da mit hinein gezogen zu werden. Benachbarte
Geschäfte stellten die Beziehungen ein. Ein Zeitungsladen in der
Nachbarschaft begann selbst Kaffe auszuschenken.
Die Polizei verfolgte die Anzeige, die Herr T. gestellt hatte nur
kurz, da die Faktenlage als nicht ausreichend eingeschätzt wurde.
Von den belästigten Kunden erstattete niemand Anzeige. Viele waren
solidarisch, aber sich mit "Du jüdisches Schwein!" anpöbeln lassen
wollten sie doch nicht.
Anonyme Beschwerden bei der Lebensmittelaufsichtbehörte machten
Herrn T. das Leben zusätzlich schwer. Der Grund: seine Waren seien
nicht ausreichend beschriftet. Das heißt, nur in englisch und
hebräische, nicht auf Deutsch. Und so weiter, und so weiter... .
Herr T., ein 59 Jahre alter Berliner, hat sich entschlossen, nach
Israel auszuwandern, wohin er eigentlich erst in einigen Jahren als
Ruheständler wollte. Er, der vor seiner Karriere als Geschäftsmann
Drogen und Sprengstoffspürhunde ausgebildet hat, sieht in Israel
mehr Zukunftsmöglichkeiten für sich und seine Familie als in
Deutschland – dem Land, in dem er einigen wenigen Mutigen sein
Überleben als verstecktes, jüdisches Kind verdankt.
Es ist zum Weinen!
Man könnte weinen aus Mitleid, aus Wut, aus Enttäuschung.
Erfahren von all diesen Vorgängen habe ich nicht
etwa aus der Berliner Presse, sondern durch einen
Internet-Artikel
beim jüdischen Magazin haGalil online.
Warum haben wir als Nachbarn, als Kirche nicht eher wahrgenommen,
was dort in Tegel geschieht, haben uns nichts überlegt, wie wir
helfen könnten, dafür gesorgt, dass sich die Polizei wirklich
kümmert?
Hätten wir nicht das friedliche Miteinander in unserer Stadt
irgendwie befördern können?
Man kann über sich selbst weinen.
Der Predigttext führt uns ebenfalls an einen Ort und in eine Zeit
zurück, in der es Grund zum Weinen gab. Nach Jerusalem zur Zeit nach
dem Jahr 70, in dem der Tempel durch die Römer zerstört worden war.
Lukas, der Evangelist, hat schon mit angesehen, was Jesus erst noch
vor Augen hat: das Bild der Zerstörung seines geliebten Heiligtums.
In der Tat ein Grund zu weinen.
Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie
und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum
Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen. Denn es
wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich
einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen,
und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir
und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit
nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.
Jesus hat den Tempel in Jerusalem geliebt. Schon als Säugling
brachten seine Eltern ihn dorthin, später lief er seinen Eltern weg,
um im Tempel, im Hause seines Vaters, in der Wohnung Gottes sein zu
können.
Jesus weint um den geliebten Tempel. Er wird zerstört werden, so wie
sein eigenes Leben am Kreuz der Römer zu Ende gehen wird.
Ein solches Weinen sitzt tief im Nacken, ist voller Wehklage, voller
Sorge und Mitleid, voller Verzweiflung vielleicht auch. Es gibt
keine Rettung mehr, was nun kommt, muss durchgestanden werden. Das
Volk Israel musste die Zerstörung mit ansehen und mit ihr leben.
Nicht nur einmal in seiner Geschichte.
Und so hatten und haben Juden ihrer Geschichte viel Grund zum
Weinen. Sie tun dies gemeinsam. Wenn man nicht alleine ist, weint es
sich leichter. Man kann einander trösten, kann fragen, wie es dazu
gekommen ist, kann überlegen, wie es weiter gehen kann.
Und, wenn es auch den Anschein hat, als weinte Jesus hier
mutterseelenalleine, so ist er in Wirklichkeit nicht alleine sondern
lebte inmitten einer Tradition des gemeinsamen Weinens und Klagens
um das zerstörte Haus Gottes, um die Gräuel der Geschichte.
Es gibt in der Religion Jesu einen Trauertag, der am 9. Tag des
Monats Aw begangen wird. (Tischa be Aw).
Ein Tag, an dem gefastet wird, ein Tag, an dem man in der Synagoge
das Buch der Klagelieder gelesen wird, denn an diesem Tag, so sagt
es die jüdische Tradition, geschah sowohl die Zerstörung des ersten
Tempels durch die Babylonier unter Nebukadnezar im Jahre 586 vor der
Zeit, wie die des zweiten Tempels durch die Römer, am 9. Aw mussten
die Juden nach einem Pogrom im Jahr 1442 Spanien verlassen.
Der 9. Aw ist jedoch nicht einfach nur ein Tag des Weinens und der
Klage. Immer gehört in der jüdischen Tradition zur Trauer auch die
Frage danach, welchen Anteil, welche Verantwortung die Menschen an
den Katastrophen der Geschichte haben. Und so ist der 9. Aw auch ein
Tag der Buße, des Umdenkens und des Schuldbekenntnisses.
Man versteht sich als mitschuldig an der Geschichte, bekennt seine
Versäumnisse und verschließt nicht die Augen vor dem, was man falsch
gemacht hat, was zu all dem Unheil führte. Denn nur, wenn man das
erkennt, kann es ja besser werden.
Und so richtet auch Jesus seinen Blick auf die Fehler seiner Zeit:
Er sagt: Du, mein Volk, ihr meine lieben Glaubensbrüder, meine
lieben Jerusalemer Nachbarn: Ihr habt nicht erkannt, was zum Frieden
dient! Ihr wollt nicht sehen, dass das Reich Gottes mitten unter
euch ist. Greifbar nahe. Warum versteht ihr nicht, dass
Nächstenliebe und Gottesliebe so eng zusammengehören? Warum verlasst
ihr Euch nicht auf Gott von ganzem Herzen? Warum steht ihr nicht
füreinander ein? Warum widersetzt ihr euch nicht mit der inneren
Kraft des Gebetes den Versuchungen durch das Römische Reich? Warum
bleibt Ihr nicht bei dem Ewigen und einen Gott, eurem Vater?
Jerusalem wurde zerstört. Bis heute klagen Juden darüber, fragen wie
Jesus nach der eigenen Schuld.
Der 10. Sonntag nach Trinitatis verdankt sein Thema als
Israelsonntag seiner zeitlichen Nähe zum 9. Aw – in diesem Jahr am
7. August. Freilich hat die christliche Kirche viele Jahrhunderte
lang nicht solidarisch mitgetrauert und mitgefastet. Sie betrachtete
die Zerstörung Jerusalems als Strafe Gottes für sein Volk, weil es
in seiner großen Mehrheit in Jesus nicht den lang erwarteten
Messias, den Christus sah. So begingen Christen den 10. Sonntag nach
Trinitatis bei aller Erschütterung doch eher triumphierend
selbstbewusst und selbstgerecht: Jerusalem hat nicht erkannt, was
seinem Frieden dient. Wir aber wissen es.
Auch heute noch meinen viele unter uns zu wissen, was dem Frieden in
Israel in der angespannten gegenwärtigen Situation hilft. Sie meinen
zu wissen, dass allein das israelische Militär schuld ist, und dass
man schon allein deswegen ein solches Land zu boykottieren habe.
Aus unserem Predigtext könnten wir etwas anderes lernen: 1. das
trostreiche Mitweinen über das Leid anderer und 2. den kritischen
Blick vor die je eigene Haustür.
Dann werden wir uns davor hüten, die Auseinandersetzungen zwischen
Israelis und Palästinensern schwarz-weiss zu malen. Die
Vorgeschichte und die jahrzehntelangen Kämpfe um die Verteilung von
Land und Rechten sind verworren und kompliziert. Das macht die
Bewertung aktuell politischer Vorgänge aus der Ferne fast unmöglich.
Dennoch können auch wir etwas tun: Wir sollten alle Kontakte zu
Menschen friedlichen Willens in der Krisenregion nutzen, um unsere
Abscheu gegenüber dem Terror zu bekunden und sie auf ihrem Weg zum
Frieden ermutigen. Die Hoffnung auf Frieden ist ein kleines
Pflänzchen, das auch von Briefen, Anrufen und Gebeten aus der ganzen
Welt lebt.
Damit könnten wir dann vielleicht auch einen winzig kleinen Beitrag
dazu leisten, dass sich Herr T., wenn er in Israel angekommen sein
wird, sich dort wohler fühlt, als hier, und dass es für ihn und
seine Familie dort keinen Grund zum Weinen gibt.
Jesus hat einmal gesagt: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie
sollen getröstet werden.
Wie abgrundtief verzweifelt wäre unser Weinen, wenn es keinen Trost
gäbe!
Wie unüberwindbar unsere Schuld, wenn es keine Vergebung gäbe.
Der 9. Aw ist ein Trauertag, ein Buß- und Fastentag. Der Glaube Jesu
kennt aber auch eine Antwort auf diese Trauer: Der Sonnabend nach
dem 9. Aw trägt den Namen "Schabbat des Trostes". An diesem Tag wird
der Glaube bezeugt, dass der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs sein
Volk nicht verlassen hat und seine Trauer nicht unbeantwortet lässt.
Den Ausklang des 9. Aw begleiten die Worte: Der Gottlose lasse von
seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich
zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, denn bei Gott ist viel
Vergebung. Darauf antwortet dann die nächste Lesung mit den Worten:
Tröstet, tröstet, mein Volk! spricht euer Gott.
Wer so getröstet und gestärkt ist, geht hinaus in ein neues Leben.
Bald feiert die jüdische Gemeinde ihr Neujahrsfest. Mit neuem Mut
beginnt sie ein neues Jahr des Herrn. Mit Gott und untereinander
verbunden dürfen sich Menschen gewiss sein: Mit Gott – und nur mit
IHM allein – können und wollen und sollen wir Taten tun.
Und der Friede Gottes, der höher ist, als unsere Vernunft, bewahre
unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
Andrea Richter ist Pfarrerin der evangelischen
Gemeinde Tegel-Konradshöhe im Kirchenkreis Berlin-Reinickendorf und
Vorsitzende der "Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum in der
Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg".
Ein Besuch in der evangelischen Kirche
Alt-Tegel im August 2003
What do they say about us?
Teil 1:
"gehen & sehen" ein Stadtrundgang
Teil 2:
Bei den Pflanzen der Bibel im
botanischen Garten
Teil 3:
Judensonntag - Tag der Judenmission -
Israelsonntag
Teil 5: Im Kino - Rosenstrasse
Teil 6:
Black Atlantic - Schwarze
in Deutschland
hagalil.com
2003-09-08 |